TikTok. Vermutlich symbolisiert der Name die knappe Dauer von Kurzvideos. Vielleicht steht er aber auch lautmalerisch für ein Metronom, startete TikTok doch als Mitsing-App. Aber er könnte genauso gut das Geld verdeutlichen, das die Mutterfirma ByteDance mit jeder Sekunde verdient, die die Nutzer auf der Plattform verbringen.
ByteDance wurde 2012 in einer WG in Peking gegründet und hat seinen rechtlichen Sitz auf den Cayman Islands. Allein im vergangenen Jahr wuchs der Umsatz von ByteDance um 70 Prozent auf 58 Milliarden US-Dollar, wie die Nachrichtenagentur Reuters ermittelte. Die 100.000 Mitarbeiter setzen damit in etwa halb so viel um wie BMW.
Das mit Abstand wichtigste Produkt von ByteDance ist TikTok. Der Markenname wurde 2017 eingeführt, um den globalen Markt zu erobern. In China startete das Videoportal bereits ein Jahr zuvor unter dem Namen Douyin. Und es brach dabei alle Rekorde: Nach nur fünf Jahren hatte TikTok eine Milliarde Nutzer. Nie zuvor machte ein Unternehmen so viele Menschen in so kurzer Zeit zu seinen Kunden. Facebook benötigte dafür knapp neun Jahre, YouTube und WhatsApp jeweils sieben.
Zugegebenermaßen profitierte TikTok dabei auch von der bereits größeren Verbreitung von Internet und Smartphones. Zudem war China als riesiger Startmarkt vorteilhaft. Doch ist das Besondere an TikTok, weltweit erfolgreich zu sein. Während Chinas Tech-Giganten Alibaba, Baidu und Tencent in westlichen Ländern zumeist Randerscheinungen sind ohne wesentliche Marktanteile, war TikTok bereits Anfang 2018 die meist heruntergeladene Anwendung im App Store von Apple.

Von amerikanischen Techgiganten kopiert
TikTok treibt mittlerweile sogar die großen amerikanischen Platzhirsche vor sich her. Mit Instagram Reels und YouTube Shorts haben zwei große Konkurrenten die Chinesen kopiert. Kein Wunder, denn dem Datendienst App Annie zufolge verbringen die TikTok-Nutzer mehr Zeit auf der Plattform als jene von Facebook, WhatsApp und Instagram. Dabei gilt im Internet: Zeit mal Nutzer gleich Umsatz. Entsprechend zahlreich kann Werbung ausgespielt werden.
Im Heimatmarkt erhält ByteDance nach Alibaba die zweitmeisten Einnahmen im Online-Werbemarkt. 21 Prozent aller Werbe-Yuan fließen laut dem Marktinstitut Interactive Marketing Lab Zhongguancun an ByteDance.
Erfolgsentscheidend ist der Algorithmus und die fast schon übergriffig wirkende Aufmachung. Kaum gestartet, spielen App und Webseite ein Kurzvideo nach dem anderen ab. Anders als bei Text- und Bild-Streams wie auf Facebook verfolgt der Betrachter nur das eine ausgespielte Video, ehe das nächste folgt oder er wegen Missfallens weiterscrollt. Kombiniert mit der Kürze der Videos bekommt das System dadurch einen sehr genauen Eindruck von den Vorlieben des Nutzers – und bedient sie entsprechend raffiniert.
Unternehmen bezahlen Influencer für Werbung
Umsatz bringen der kostenfreien Plattform letztlich zahlende Unternehmen. Sie können nach dem online bewährten Prinzip werben: Ziel festlegen (Klicks auf die Webseite, Videoaufrufe oder Kundendaten sammeln?), Zielgruppe bestimmen und Budget einstellen. Je besser eine Plattform ihre Nutzer kennt, desto lukrativer ist sie für Werbende. Seht her, das ist euer Publikum, macht was draus, kostet euch so viel ihr wollt! Es gibt zudem eine direkte Schnittstelle in den Videos, um zu beworbenen Online-Shops zu gelangen.
Deutsche Unternehmen spricht das noch nicht so recht an. Sie scheinen weniger direkt präsent auf TikTok, als sie es auf Facebook, Instagram oder auch Twitter sind. Dabei ist die Videoform den althergebrachten Werbeclips von der Länge her sehr ähnlich. Und doch muss die Kreativität schon besonders sein, um nicht unangenehm aufzufallen zwischen all den kleinen Meisterwerken vermeintlicher Amateurkünstler. Darum lassen sie gerne Influencer für sich werben, die sich eine Vertrauensbasis bei ihren Followern geschaffen haben.
Zudem dürfte es der ein oder anderen Marketingabteilung schwerfallen, die Budgetverantwortlichen für Werbemaßnahmen auf TikTok zu begeistern, das vor allem junge und wenig zahlungskräftige Menschen nutzen, die sich in der Regel noch keinen SUV leisten können.
An der Grenze zur Pornografie
Dass das Unternehmen in den vergangenen Monaten oft mit negativen Schlagzeilen assoziiert wurde, dürfte ebenfalls die Werbebereitschaft hemmen. Hilfreich für das rasante Wachstum von TikTok war die Verschmelzung mit dem Konkurrenten musical.ly, den ByteDance 2017 aufgekauft hatte. Bis dato war der Ruf von Douyin/TikTok zweifelhaft, weil auch (kinder-)pornografische Inhalte hochgeladen wurden. Wer die durchaus lasziven Videos der oftmals sehr jungen Nutzerinnen sieht, ahnt, dass nur ein rigides Eingreifen durch die Verantwortlichen verhindert, dass die Grenze zum Erträglichen und Erlaubten nicht gänzlich überschritten wird.
Datenschutz ist ebenfalls ein Problem. TikTok basiert auf einem Big-Data-Algorithmus, den die ByteDance-Gründer Zhang Yiming und Liang Rubo schon mit den Angestellten ihres ersten Start-ups entwickelt hatten. Der ursprüngliche Algorithmus half Nutzern, für sie passende Nachrichten auszuspielen, was zum Urprodukt von ByteDance wurde. Viele Kritiker betonen die Gefahr, dass die Daten, die über Nutzer weltweit gesammelt werden, bei der chinesischen Armee und den Geheimdiensten landen könnten. Der Algorithmus könnte zudem chinafreundliche Inhalte favorisieren und chinakritische Beiträge abwerten – obgleich die Manager immer wieder das Gegenteil beteuern.
Eine Waffe im Wirtschaftskrieg
Auch deswegen wurde TikTok ein Spielball internationaler Geopolitik während der Präsidentschaft von Donald Trump. Der verlangte im Sommer 2020, dass ByteDance TikTok verkaufen müsse. Andernfalls drohe TikTok in den USA eine Sperre aufgrund nationaler Sicherheitsbedenken. Microsoft im Verbund mit Walmart sowie Oracle buhlten um die Videoplattform, die Verhandlungen galten als weit fortgeschritten. Doch China vereitelte eine Übernahme, indem es künstliche Intelligenz und damit TikTok als Schlüsseltechnologie deklarierte, die nicht ohne weiteres ins Ausland transferiert werden könne. Letztlich folgte eine Partnerschaft mit Oracle und Walmart, die sicherstellen sollte, dass Daten von amerikanischen Bürgern nicht der chinesischen Regierung in die Hände fallen. Zudem erklärte ein Gericht die Anordnungen Trumps für unzulässig.
Allerdings stand Trump mit seiner Einschätzung nicht allein da. Zuvor hatte bereits Indien TikTok mit Verweis auf Sicherheitsinteressen verboten – unmittelbar nach einem Vorfall zwischen chinesischen und indischen Streitkräften in einer strittigen Grenzregion. Bangladesh, Indonesien und Pakistan wiederum haben TikTok wegen unangemessener Inhalte gesperrt.
Aber auch in China selbst steht ByteDance unter Beobachtung. So kündigte das Unternehmen erst im Januar an, den Konzern umzustrukturieren und insbesondere die Investmentabteilung stark zu verkleinern. Mutmaßlich versucht ByteDance damit, chinesischen Behörden entgegenzukommen, die im vergangenen Jahr unter anderem den Börsengang des Finanzdienstleister von Alibaba, Alipay, untersagten. ByteDance selbst hatte 2021 das Computerspiele-Unternehmen Moonton Technology für 4 Milliarden US-Dollar übernommen sowie einen Hersteller von Virtual-Reality-Headsets. Pläne für eine eigenen Börsengang wurden im vergangenen Frühjahr ad acta gelegt.
Denkbar ist zudem, dass auch für den Rückzug des Mitgründers Zhang Yiming staatliche Eingriffe eine Rolle spielen. Zhang gehören zwischen 20 und 30 Prozent des Unternehmens. Er zählt zu den fünf reichsten Chinesen. Im vergangenen April war er von chinesischen Beamten zusammen mit anderen Firmenchefs aufgefordert worden, wettbewerbsfeindliche Praktiken zu unterlassen.
16 Millionen Euro Jahresverdienst
Den Nutzern scheint all das ziemlich egal zu sein, wie die weiterhin wachsende Popularität suggeriert. Kontroverse Inhalte sind wenig gefragt. Berühmt werden die TikToker vor allem mit Witz, Klamauk und Freizügigkeit, was eine eigene Riege sehr junger und divers wirkender Menschen reich gemacht hat. Zwar bessern auch viele Promis der „alten Welt“ ihr Einkommen mittels TikTok erheblich auf. Doch die Zahl der Stars, die erst dort erstrahlten, ist deutlich größer. Laut Statista gehören die fünf beliebtesten Accounts der erst 17-Jährigen Charli D’Amelio (137 Mio. Follower), dem in Italien lebenden Senegalesen Khabane Lame (132 Mio.), der auf den Philippinen geborenen Sängerin Bella Poarch (88 Mio.), der amerikanischen Tänzerin Addison Rae (87 Mio.) und dem immerhin schon 32-jährigen Zach King (67 Mio.). Alles Namen, die Zeitungslesern eher weniger geläufig sein dürften. Immerhin kommt auf Platz 6 Oscarpreisträger und Ohrfeigenverteiler Will Smith.
Lukrativ ist das durchaus. Erfolgreichster deutscher Influencer ist gemäß Infludata Younes Zarou mit 43 Millionen Followern und 12 Milliarden Videoaufrufen. Der Frankfurter dürfte damit mehrere 10.000 Euro pro Post verdienen. Noch darüber liegt Charli D’Amelio. Sie erzielte nach Schätzungen von Forbes im vergangenen Jahr Einnahmen von etwa 16 Millionen Euro. Tik – Tok.
