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„Stern TV am Sonntag“: Wer braucht Argumente, wenn man eine Meinung hat?

Xavier Naidoo, Dreadlocks, Hamstern: Das neue Format von „Stern TV“ reproduzierte Aufreger ohne Erkenntnisgewinn. Besonders Serdar Somuncu fiel unangenehm auf.

Das Moderatorenteam von „Stern TV am Sonntag“: Diesen Sonntag war Steffen Hallaschka (links) dran, kommende Woche übernimmt zum ersten Mal Dieter Könnes vom WDR.
Das Moderatorenteam von „Stern TV am Sonntag“: Diesen Sonntag war Steffen Hallaschka (links) dran, kommende Woche übernimmt zum ersten Mal Dieter Könnes vom WDR.RTL / Guido Engels

Es konnte nur besser werden. Im vergangenen Januar hatte RTL sich mit der ersten Testausgabe von „Stern TV am Sonntag“ derart blamiert, dass sich sogar Journalisten und Mitarbeiter der Produktionsfirma i&u, die jeden Mittwoch „Stern TV“ verantworten, bei Twitter von dem Format distanzierten und deutlich darauf hinwiesen, dass RTL die Sonntagssendung selbst produziert hatte.

Der erste Probelauf wurde von Nikolaus Blome und Frauke Ludowig an überdimensionalen Tischen moderiert. Gefühlt wurde die Sendung minütlich unterbrochen von einer Live-Band inklusive Posaune. Es ging unter anderem um den Skandal um Novak Djokovic und Corona generell, zu Wort kam ein prominenter Querdenker, der einigermaßen unwidersprochen seine fantastischen Fakten ausbreiten durfte – und der Fußballtrainer Dragoslav „Stepi“ Stepanović, der Djokovic verteidigen wollte, aufgrund technischer Probleme allerdings kaum zu verstehen war.

Ob nach einer missglückten Generalprobe die Premiere tatsächlich umso gelungener ausfallen würde, galt es nun gestern Abend zu beweisen.

„Wir müssen reden“

„Stern TV am Sonntag“ ging als erstes Kind aus der teuren Vermählung der RTL-Mediengruppe und dem Medienunternehmen Gruner + Jahr hervor. RTL kaufte zum Jahresbeginn 2022 für 230 Millionen die Magazingeschäfte und -marken von Gruner + Jahr, zu denen unter anderem Brigitte, Geo und Stern gehören. Die Sonntagsausgabe von „Stern TV“ sollte Teil der Senderstrategie sein, um das Informationsangebot auszubauen – informiert wurde in der ersten regulären Ausgabe gestern Abend leider wenig.

„Wir müssen reden,“ rief Moderator Steffen Hallaschka zum Auftakt der Sendung aus. Er hieß die Zuschauer willkommen „bei der Talkshow, in der auch Sie gefragt sind“. Dass die Meinung des Fernsehpublikums von nun an sonntags im Vordergrund stehen soll, versprach im Vorfeld auch schon i&u-Geschäftsführer Andreas Zaik. Von Abstimmungen, Video-Statements und Social Media war die Rede. Das Ergebnis blieb überschaubar. Ein paar eingesendete Handyvideos wurden gezeigt und in den Werbepausen konnte live eine Ja-Nein-Frage beantwortet werden. In der ersten Runde beteiligten sich laut Hallaschka circa 11.000 Menschen („Glauben Sie Xavier Naidoo?“), danach gab es technische Probleme, die der Interaktivität ein frühes Ende bereiteten.

„Die bewegendsten Themen der Woche“, die laut RTL ab jetzt jeden Sonntag ganze zwei Stunden lang besprochen werden sollen, hießen diese Woche: Xavier Naidoo, Hamstern, Dreadlocks, Tempolimit. Pro Thema also eine halbe Stunde, inklusive sieben Minuten Werbung, mehreren Einspielern und drei Promis im Studio, die ihre persönliche Meinung dazu loswerden sollten. Wie konstruktiv eine Diskussion unter diesen Bedingungen ausfallen kann, liegt auf der Hand, zumal wenn die Themen vorrangig nach ihrem Provokationspotenzial ausgewählt werden. Die Frage, ob weiße Menschen Dreadlocks tragen sollten, mag vor einem Monat für manche interessant gewesen sein, gehörte aber sicher nicht zu den „bewegendsten Themen der Woche“.

Serdar Somuncu hält nichts von Entschuldigungen

Die prominenten Gäste waren diese Woche der Modedesigner Harald Glööckler, Comedian Serdar Somuncu und Autorin und Twitter-Star Marie von den Benken, die Hallaschka mit einem ihrer aktuellen Tweets vorstellte: „Wenn Sie für den Rest Ihres Lebens entweder nur noch Sendungen mit Mario Barth und Dieter Nuhr sehen dürften, oder bis zum Ende aller Tage nichts außer Pommes essen – nehmen Sie Majo oder Ketchup dazu?“ Eisige Stille im Publikum und auf den Nachbarstühlen. Die Entscheidung, von den Benken einzuladen, war seitens RTL ein kluger Schachzug, um das Interesse der Twitter-Community zu wecken, zudem ruhte sich die Autorin als Einzige der Gäste nicht auf ihrem Bauchgefühl aus, sondern hatte sogar interessante Fakten und Fragen mitgebracht. Diese in den kurzen Gesprächszeiten unterzubringen, wurde ihr allerdings nicht leicht gemacht.

Nach der Willkommensrunde ging es dann um den Fall Xavier Naidoo, man ließ dessen Ausfälle der vergangenen Jahre Revue passieren und zeigte Ausschnitte seiner Entschuldigung. Jeder Mensch habe eine zweite Chance verdient, kommentierte van den Benken, man solle jetzt abwarten, wie er sich von nun an verhalte. Glööckler stimmte zu, Somuncu mokierte den modernen Trend, sich „halbgar zu entschuldigen“ und zu glauben, man könne sich damit reinwaschen. Bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass Somuncu vor knapp zwei Jahren selbst einen gehörigen Shitstorm erlebte, nachdem er sich in seinem Podcast bei radioeins rassistisch, sexistisch und homophob geäußert hatte.

Satire sei das gewesen, beteuerte er, was aus verschiedenen Gründen bezweifelt werden darf. Der rbb löschte die entsprechenden Stellen. Darauf von Hallaschka angesprochen, sagte der Comedian: „Ich habe mich nicht entschuldigt, ich habe mich erklärt.“ An dieser Stelle sei nochmal aus seinem Podcast vom 22. September 2020 zitiert: „Ich habe kein Problem damit, zu sagen: Auch wir machen Fehler, auch ich mache Fehler, du machst Fehler, und ich habe noch weniger ein Problem damit zu sagen, dass es mir aufrichtig leid tut, wenn wir Leute damit verletzt haben.“

Verschnürt wurde das Themenpaket schließlich mit der These von Somuncu, dass Xavier wohl schlicht zu viel gekifft habe. Und was sagte die Zuschauer-Umfrage? Nur 13 Prozent glauben, dass der Musiker es ernst meint mit der Reue. Nun gut.

Stammt der Mensch vom Hamster ab?

Im folgenden Block wurde klar, warum Harald Glööckler eingeladen war, denn nun ging es ums Hamstern. Der Modedesigner hat selbst einen gut gefüllten Vorratskeller, auch wenn er größtenteils mit Putzmitteln eingedeckt ist. Journalist Peter Jamin, der als Mann aus dem Volk geladen war, lobte ihn dafür. Überhaupt sei er überzeugt, dass jeder Mensch hamstern sollte und auch generell das Recht auf einen freien Einkauf habe. Die oft beschworenen „leeren“ Regale zu finden, um den Beitrag zu bebildern, hatte sich für das RTL-Team offenbar als Herausforderung dargestellt. Generell erfuhren die Zuschauer nichts Konkretes über das vermeintliche Problem.

„Das Hamstern steckt in unseren Genen, wir sind Jäger und Sammler,“ erklärte Jamin. „Stammen wir nicht vom Affen statt vom Hamster ab?,“ konterte Hallaschka. Marie von den Benken wollte irgendwann wissen, was „hamstern“ eigentlich bedeute, woraufhin der Moderator fragte, ob sie denn schon mal gehamstert habe. „Das kommt auf die Definition an,“ erwiderte sie. Hallaschka: „Ich habe gehört, du hast in der Pandemie Ravioli gehamstert?“. Somuncu: „Wir sind doch alle ein bisschen asozial.“

Was sagen die Zuschauer (aufgrund der technischen Probleme unter Vorbehalt) zum Hamstern? 21 Prozent finden es okay. Na dann.

Ein „buchstäblich haariges“ Thema

Zum Thema ‚Kulturelle Aneignung‘ war die Musikerin Ronja Maltzahn eingeladen; an ihrer Person hatte sich das Thema Ende Mai mal wieder neu entbrannt, nachdem sie von Fridays for Future von einer Veranstaltung ausgeladen wurde, weil sie als Weiße Dreadlocks trug.

Im Studio sprach die Frau mit der Schwarzen Moderatorin Shanon Bobinger, der es zumindest hin und wieder mal gelang, das Gespräch zu dem „buchstäblich haarigen Thema“ (Hallschka) über das durchschnittliche Stammtischniveau zu heben. In dieser Hinsicht war auf die männlichen Promis Verlass. Glööckler fühlte sich angegriffen: Er habe durch seine großzügig aufgespritzten Lippen keine Vorteile im Leben gehabt, ganz im Gegenteil. Aber er habe von diesem Mund geträumt, seit er mit 15 Jahren die Totenmaske von Tutanchamun sah. Somuncu stellte klar, dass Schwarze übrigens noch keine besseren und Weiße keine schlechteren Menschen seien und ja überhaupt schon immer kulturell angeeignet wurde. Dass zu diesem Komplex die Publikumsfrage ausblieb, kann man RTL nicht hoch genug anrechnen.

Anschließend ging es um ein potenzielles Tempolimit. Matthias Walter von der deutschen Umwelthilfe machte als Studiogast leidenschaftlich deutlich, dass an 100 Stundenkilometer auf den Autobahnen, 80 auf Landstraßen und 30 innerorts kein Weg vorbeiführe, wenn man in Deutschland gesetzlich verankerte Klimaziele erreichen wolle – vom Öl aus Russland und den Unfalltoten ganz zu schweigen. Somuncu: „Aber China...“

„57 Prozent der Deutschen sind für ein zeitlich begrenztes Tempolimit. Freut sie das?,“ fragte Hallschka seinen Experten-Gast. Darum ginge es doch nicht, antwortete der. Doch davon ließ sich der Moderator nicht entmutigen. „Darf ich etwas Persönliches fragen? Schon mal geblitzt worden? Welches Auto fahren Sie?“

Der Reflex, jedes Thema auf die persönliche Ebene zu ziehen, ist nachvollziehbar, sowohl wirtschaftlich, als auch pädagogisch. Dass es aber keine Notwendigkeit ist, Fakten dabei weitgehend auszublenden, diese Erkenntnis würde „Stern TV am Sonntag“ zugutekommen.

„Ich hoffe nicht, dass die Leute denken, wir erfinden das Rad neu,“ sagte Andreas Zaik von i&u vergangene Woche in einer Pressekonferenz. Zumindest ein, zwei neue Speichen wären allerdings schön gewesen. Doch RTL hat anscheinend andere Pläne. Die letzten zehn Minuten der Sendung waren Werbung für die Neuauflage von „Der Preis ist heiß“, die Harry Wijnvoord ab dem 4. Mai wieder moderieren wird.

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