Die Musik ist dramatisch, der Hintergrund dunkel, und der Mann, der sich mit einem Schulheft in der Hand auf einen Stuhl setzt, ernst in die Kamera schaut, er trägt auch noch ein komplett schwarzes T-Shirt. Am Ende dieses Textes wird das vielleicht von Bedeutung sein. Zunächst aber liest der Mann die Geschichte von Anna vor, es geht ums Reiten, Annas größten Traum, der wahrscheinlich unerfüllt bleiben wird, sollten die Zuschauer da draußen ihrer Familie nicht helfen. Der Mann sagt: „Ich hoffe, Sie können von Armut bedrohte Familien in Dänemark unterstützen.“ Der Spendenaufruf auf Instagram ist nur wenige Sekunden lang.
Es war trotzdem schön, den Mann wiederzusehen: Christian Eriksen, 29, famoser Mittelfeldspieler der dänischen Nationalmannschaft, bei der Europameisterschaft im vergangenen Sommer vor Millionen Fernsehzuschauern kollabiert, einfach so, ohne gegnerische Einwirkung, wie es im Fußballsprech heißt. Seitdem war Eriksen verschwunden aus der Öffentlichkeit – und doch stets auffindbar: als Teil einer fortwährenden Verschwörungserzählung im Internet.
Eine Woche nach seinem Herzstillstand im Gruppenspiel gegen Finnland und den geglückten Wiederbelebungsversuchen auf dem Rasen wurde Eriksen operiert, er bekam einen Defibrillator eingesetzt. Bis heute fehlt eine genaue Diagnose, Experten gehen jedoch davon aus, dass es eine nicht heilbare Herzerkrankung gewesen sein muss. Wahrscheinlich eine genetisch bedingte Myokarditis, eine Herzmuskelentzündung, die selbst dann lange unentdeckt bleiben kann, wenn man Profisportler ist, also regelmäßig durchgecheckt wird.
Aus dem Mund von Herrn Schwurbel ins Ohr von Onkel Corona-Leugner
Nach Eriksens Zusammenbruch ging es gleich los, füllten sich die Kanäle mit Fake News, verbreitete sich die Theorie, wonach eine Impfung gegen das Coronavirus für den Herzstillstand verantwortlich gewesen sein muss. Beweise? Quellen? Ein angebliches Interview, das der Chefarzt und Kardiologe von Eriksens Arbeitgeber Inter Mailand einem italienischen Radiosender gegeben und dabei bestätigt haben soll, der Spieler sei bereits mit Biontech geimpft. Dass das gar nicht stimmte und dieses Interview nie stattgefunden hat, spielte bald keine Rolle mehr. Der Zusammenhang zwischen Vakzin und Herzkrankheit war hergestellt, wanderte von Telegram über WhatsApp zu Facebook und wieder zurück, kam plötzlich aus dem Mund von Herrn Schwurbel aus Stuttgart und wanderte ins Ohr von Onkel Corona-Leugner aus Chemnitz.
An dieser Stelle schnell noch ein Satz zum Auswendiglernen, der nächste Familienstreit ist ja nicht mehr weit: „Das Risiko einer schweren (akuten) Herzschädigung ist bei einer Infektion mit dem Erreger Sars-CoV-2 offenbar merklich größer als bei einer Impfung mit einem mRNA-Impfstoff zum Schutz vor Covid-19.“ Quelle: Deutsche Herzstiftung. Findet man aber auch bei anderen seriösen Informationsanbietern.

Im Oktober ging es jedenfalls wieder los, tauchte in Blogs, Foren und Chatgruppen eine Liste von 30 Fußballern, Trainern, Schiedsrichtern und Schiedsrichterassistentinnen auf, gesammelte Vorfälle aus Deutschland und anderen europäischen Ländern, die einen angeblich rätselhaften Anstieg von Herzerkrankungen suggerieren. In Begleittexten wird mal mehr, mal weniger verhohlen behauptet, dass Impfungen gegen Covid-19 für all die Herzstillstände, Herzinfarkte, Herzmuskelentzündungen und andere Zusammenbrüche – auch mit Todesfolge – verantwortlich seien.
Auf Facebook schreibt die AfD Bayern: „Noch werden die offensichtlichen Nebenwirkungen und die Wirkungslosigkeit der neuen Impfstoffe vom C-Regime aus Angst vor dem Implodieren des Seuchen-Narrativs unter den Teppich gekehrt. Aber die Wahrheit lässt sich nicht ewig verleugnen.“ Dass ist übrigens der Landesverband, dessen Mitglieder auf Telegram von „Impfdiktatur“ sprechen und von „Umsturz und Revolution“ träumen, wie aktuelle Recherchen des Bayerischen Rundfunks zeigen.
War das nicht im November 2020, als es noch gar keinen Impfstoff gab?
Zu den Erkenntnissen der Pandemie zählt, dass viele Menschen die Wahrheit eher dort suchen, wo sie ihnen beliebt. Wo sie ihre auf Zweifeln, Skepsis und Misstrauen oder einer wie auch immer begründeten Impfangst erbaute Gedankenwelt nicht vor Erschütterungen gefährdet sehen. Wo sie der Anstrengung, die es nun mal kostet, Ungewissheiten und Widersprüche zu ertragen, aus dem Weg gehen können. Wo sie immer recht haben dürfen. Und was nicht passt, wird einfach passend gemacht. Als würde man ein falsches Puzzlestück in eine vermeintlich richtige Lücke hämmern.
Das gilt auch für die Liste. Ein Amateurspieler aus Gifhorn bricht beim Aufwärmen zusammen und muss reanimiert werden. Klarer Fall, es muss mit der Impfung zu tun haben! Moment mal, datiert dieser Vorfall nicht aus dem November 2020, als es noch gar keinen Piks gegen Covid gab?
Ein Torwarttrainer in Niederbayern wird im August 2021 nach einem Herzinfarkt wiederbelebt. Da, schon wieder einer! Aber ist es nicht seltsam, dass die sonst mit Altersangaben versehene Liste hier darauf verzichtet. Passen womöglich 62 Jahre nicht ganz ins Schema?
Es wird unter Fußballerinnen und Fußballern nicht mehr gestorben als vor der Covid-19-Pandemie.
Die Wahrheit, zumindest was diese Liste der Herzerkrankungen im Fußball angeht, ist nur einen Rechercheschritt entfernt. Anfang November veröffentlichte die Nachrichtenagentur AFP einen Faktencheck, der Text heißt: „Nein, diese Liste beweist keinen 50-fachen Anstieg an Herzstillständen im Fußball“. Vielleicht hätte der Autor drei Ausrufezeichen anfügen sollen. Es half ja nichts. Die Liste ist immer noch im Umlauf, sie erreicht den ungeimpften Freund eines Nachbarn, den Corona verharmlosenden Bruder eines Kollegen, sie wird von Medien aufgegriffen, sie klickt besser als der vor ein paar Tagen erschienene Text des Recherchenetzwerks Correctiv mit dem Titel: „Keine Belege für Anstieg von Herzstillständen bei Sportlern“. Spätestens jetzt sollten alle Fragezeichen verschwinden.
Zu den Fakten: Es stimmt schon, Herzerkrankungen können vor allem bei geimpften Männern unter 30 auftreten. Das Robert-Koch-Institut schreibt, dass der Einsatz der mRNA-Vakzine von Biontech und Moderna „in seltenen Fällen Herzmuskel- und/oder Herzbeutelentzündungen (Myokarditis und Perikarditis)“ zur Folge haben kann. Der Verlauf sei überwiegend mild. Laut Correctiv vermische die im Netz verbreitete – und immer wieder aktualisierte – Liste jedoch Fälle mit ganz unterschiedlichen medizinischen Diagnosen. Herzinfarkte oder plötzliche Herzstillstände beim Sport seien nun mal nicht dasselbe wie Herzmuskelentzündungen. Die Liste erscheine daher willkürlich.
Die AFP zitiert Florian Egger mit den Worten: „Die Behauptung, dass da eine Dynamik drinsteckt, lässt sich aus unseren Daten sowie anderen internationalen Registerstudien nicht ableiten. Es wird unter Fußballerinnen und Fußballern nicht mehr gestorben als vor der Covid-19-Pandemie.“ Egger arbeitet am Institut für Sport- und Präventivmedizin der Universität Saarbrücken und leitet eine Arbeitsgruppe, die gemeinsam mit dem Weltverband Fifa alle bekannten Fälle von SCA (plötzlichem Herzstillstand), CSD (plötzlichem Tod durch Herzstillstand), Synkope (Ohnmacht oder Kollaps), SVT (schnellen Herzrhythmusstörungen aus den Herzvorhöfen) und WPW (Wolff-Parkinson-White-Syndrom) zusammenträgt. Aus Dänemark stammt ein Registereintrag in diesem Jahr.
Offen über Doping oder die falschen Trainingsmethoden könnte man auch mal sprechen
Als am vergangenen Montag der Ballon d’Or an Lionel Messi vergeben wurde, zum siebten Mal bereits, sagte Dani Alves vom FC Barcelona dem Fernsehsender Sky Sport Italia: „Messi ist der Beste seit 20 Jahren, aber es wäre schön gewesen, wenn Eriksen gewonnen hätte.“ Weil es eine Botschaft gewesen wäre, die Leute für das Thema sensibilisiert hätte.
Man hätte die Leute vor allem noch mal daran erinnert, dass es Herzerkrankungen im Spitzensport auch vor der Pandemie schon gab. Oder man hätte endlich mal offen über Dopingmittel gesprochen, die das Herz verändern. Oder über eine Trainingsmethodik, die womöglich falsche, das Herz schädigende Schwerpunkte setzt.
Wahrscheinlich dachte Alves auch an seinen Mitspieler Sergio Agüero, der Ende Oktober während eines Ligaspiels zusammenbrach, keine Luft bekam, sich an die Brust fasste. Die spätere Diagnose: Herzrhythmusstörungen. Vor einer Woche gab Agüero, 33, sein Karriereende bekannt. Die Internetliste ist wieder länger geworden. Wer den Argentinier googelt, bekommt zunächst den Suchbegriff „geimpft“ vorgeschlagen. Über seinen Impfstatus ist nichts bekannt.
Beweise? Quellen? Nee, dann lassen wir besser das Schwurbeln
Die Frage, ob Christian Eriksen jemals wieder professionell Fußball spielen wird, könnte schon bald beantwortet werden. Gerüchten zufolge könnte Ajax Amsterdam an einem Spielertausch mit Inter Mailand interessiert sein. Im Gegensatz zur niederländischen Eredivisie verbietet die italienische Serie A den Einsatz von Spielern, die einen Defibrillator unter der Haut tragen. So wie Amsterdams Daley Blind. So wie Daniel Engelbrecht vom damaligen Drittligisten Stuttgarter Kickers, der 2014 – Herzmuskelentzündung, chronische Herzrhythmusstörungen – nach vier Operationen noch einmal zurückkehrte auf den Platz, als erster Spieler in Deutschland. Die Probleme blieben, drei Jahre später gab Engelbrecht den Fußball auf.
Das Spendenvideo auf Instagram liefert zwar keinen Hinweis auf Eriksens weiteren Karriereweg. Er selbst hat sich noch nicht geäußert. Doch es fällt schon auf, dass alle lesenden Nationalmannschaftskollegen T-Shirts mit Sponsorenaufschriften tragen. Nur Eriksen nicht. Als gehörte er nicht mehr dazu. Beweise? Quellen? Nee, dann lasse ich mal besser das Schwurbeln.
