Berlin-Normalerweise beginnt die Erzählung von einer Liebe mit dem Moment, in dem sich zwei Menschen begegnen. Sie treffen sich zufällig, wenn sich die Bahnen ihrer Leben kreuzen oder auf einer der vielzähligen Apps, die heute die Suche nach Liebe und Lust ermöglichen. In jeder Seifenoper geht es irgendwann um diese eine Sekunde: der erste Blick und die Spannung, die zwischen zwei Menschen entsteht, die einander attraktiv finden. Diese Erlebnisse sind oft magisch. Kein Wunder, dass die erste Frage, die einem neuen Paar gestellt wird, so oft auf den Augenblick des Kennenlernens abzielt. Doch wo beginnt eine Liebe, in der es mehr als zwei Protagonisten und gleich mehrere Momente des Kennenlernens gibt?
Eine Liebe beginnt immer auch mit einer Ahnung davon, dass da mehr sein könnte als ein bloßes Überschneiden von Interessen, Ansichten und körperlicher Anziehung. Als wir einander begegneten, lag ein Anflug von diesem Mehr sofort in der Luft. Wir, das waren Inka, Sophie und ich. Auch eine Liebe zu vielen beginnt mit einer ersten Begegnung, vielen ersten Begegnungen. Wir trafen einander im Lauf einer Nacht, zu einer Zeit, in der man diese noch tanzend verbrachte. Erst traf mich Sophie, ihr Blick traf Inka und schließlich trafen wir drei uns am Ufer der Spree.
Eine neue Tiefe des Erlebens
Zwischen uns erschufen wir einen Raum, der wunderschön und groß war. Ein Raum, in dem wir einander als die Menschen treffen konnten, die wir wirklich waren – so sehr man wirklich ist, wer man ist, wenn man berauscht ist. Es gab so viele Themen, so viele Ideen und so viel Gemeinsames, über das wir reden und lachen konnten. Wir verbrachten eine ganze Nacht damit, einander kennenzulernen und zu erkunden. Die Fülle an Möglichkeiten und die Intensität der Zeit zu dritt weckte in uns das Gefühl, dass wir da auf etwas Großes gestoßen waren, auf ein Mehr an Möglichkeiten und Abenteuern, auf ein neues Leben.
Aber eröffnet eine amouröse Episode nicht immer die Perspektive auf ein neues Leben? Was war es, das die Begegnung zwischen uns dreien so besonders machte? War es der geteilte Rausch? Oder einfach der Fakt, dass wir zu dritt waren? In dieser ersten gemeinsamen Nacht hatte ich wirklich das Gefühl, dass wir drei zu einer Einheit verschmolzen. Wir öffneten uns voreinander, miteinander und entdeckten unglaublich viel Neues, nicht nur in den anderen, sondern auch in uns selbst. Mit jeder Berührung, ob mental oder körperlich, schien der Raum zwischen uns zu wachsen und Platz zu schaffen für eine Tiefe des Erlebens, die ich bis dahin nicht für möglich gehalten hatte.

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Ich musste mich vergewissern, dass es kein Traum war
Keiner von uns machte in dieser Nacht ein Auge zu. Und auch die darauffolgenden Tage und Nächte verbrachten wir in einem Trancezustand, einem geteilten Traum. Gemeinsam suchten wir nach Erkenntnis, Rausch und Lust: nach Leben. Die Grenzen zwischen uns schienen aufgehoben zu sein. Ich hatte das Gefühl, dass wir gemeinsam auch die Grenzen sprengen könnten, die uns die Realität setzte.
Gerne würde ich davon berichten, dass die Liebe tatsächlich in der Lage ist, die Grenzen der Realität durcheinanderzuwirbeln – aber leider ist das hier keine Seifenoper. Inka war nur zufällig in der Stadt und musste sich nach ein paar Tagen wieder ihrem Studium in der Ferne widmen. Sophie und ich brachten sie zum Bahnhof. Und als wir den Zug ausfahren sahen, machte sich in mir eine beißende Leere breit. Ich suchte mit der meinen nach der Hand Sophies. Ich musste sie spüren, musste mich vergewissern, dass das Ganze nicht bloß ein Traum gewesen war.
Eine nie enden wollende Reihe an Abenteuern
Was jetzt? Wir kannten einander erst seit ein paar Tagen und doch hatte ich das Gefühl, dass wir zueinander gehörten, dass das gemeinsam Erlebte unsere Lebenswege unweigerlich miteinander verknüpft hatte. Schweigend liefen wir durch den Hauptbahnhof und hielten uns aneinander fest, bis wir am Ufer der Spree standen.
Der Abschied von Inka fühlte sich so ähnlich an wie die Rückkehr von einem Festival: Man hat tagelang zu wenig geschlafen, der Serotoninhaushalt ist im Keller und der Kopf ist unglaublich voll von Erlebtem. Das Leben, das einen erwartet, erscheint trist und grau. Wie geht man damit am besten um? Wie schafft man es, sich wieder dem drögen Alltag zu widmen, ohne daran zu verzweifeln?
In den darauffolgenden Wochen stürzten Sophie und ich uns gemeinsam in eine nicht enden wollende Reihe von Abenteuern. Wir lernten einander kennen und lieben, tauchten ein in die Welt des jeweils anderen. Wir wurden so etwas wie ein Paar. Doch diese Bezeichnung trifft es nicht ganz, denn wir waren noch immer zu dritt. Trotz der Distanz wurde Inka ein unglaublich wichtiger Teil unserer Beziehung. Regelmäßig telefonierten wir mit ihr, schrieben ihr gemeinsam Briefe, und auch wenn wir nicht in direktem Kontakt zu ihr standen, schien sie doch immer dabei zu sein, egal was wir unternahmen.
Ein Schreckensszenario nach dem anderen jagte durch meinen Kopf
Wir besuchten einander so oft es ging, und für eine gewisse Zeit schien unser Konzept von der Liebe zu dritt aufzugehen. Wir hatten uns einen Raum geschaffen, in dem alles möglich zu sein schien, in dem es keine Eifersucht und keine Geheimnisse gab, in dem wir nichts voreinander zu verstecken brauchten; so glaubte ich zumindest. Dieser Raum gab uns die nötige Sicherheit, der Welt zu begegnen. Und war nach meinem Empfinden groß genug, um uns allen das richtige Maß an Freiheit zu geben.
Doch plötzlich fiel dieser Raum wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Sophie rief mich an und sagte, dass ich so schnell wie möglich zu ihr kommen solle. Inka war unangemeldet bei ihr aufgetaucht und sagte, dass sie mit uns beiden reden müsse. Ich schwang mich sofort aufs Fahrrad und fuhr los. Was konnte denn passiert sein? Noch gestern hatten wir miteinander telefoniert und alles schien in Ordnung zu sein. War sie schwanger geworden oder war jemand gestorben? Hatte sie eine unheilbare Krankheit? Ein Schreckensszenario nach dem anderen jagte durch meinen Kopf, während ich durch die Stadt raste.
Ich hatte die Beziehung falsch eingeschätzt
Schon in einer Beziehung zwischen zweien ist es oft schwer, die Balance herzustellen zwischen der Freiheit, die man einander schenkt, und der Sicherheit, die man einander gibt. Das Pendel schwingt immer zwischen den beiden unerreichbaren Polen der absoluten Sicherheit und der absoluten Freiheit. Es ist ein nie endender Aushandlungsprozess, und je nach den Bedürfnissen der Beteiligten schlägt es für eine gewisse Zeit eher in die eine und dann wieder in die andere Richtung aus.
Für eine lange Zeit hatte ich das Gefühl, dass wir diese Balance in unserer Dreiecksbeziehung perfekt austariert hatten. Mein Bedürfnis nach Sicherheit war in meiner Verbindung zu Sophie vollkommen abgedeckt, und wenn ich mich nach Abenteuern sehnte, konnte ich mir sicher sein, mit Inka welche zu erleben. Ich hatte es mir in unserer Konstellation gemütlich gemacht und sah durch meine rosarote Brille die anderen beiden nicht mehr klar. Das wurde mir bewusst, als ich bei Sophie ankam und Inka langsam zu sprechen anfing. Ich hatte unsere Beziehung und vor allem den von uns geteilten Raum vollkommen falsch eingeschätzt.
Wir ahnten, dass es das Ende war
Inka erzählte, dass sie sich seit längerem schon nicht mehr geborgen fühlte, dass sie sich nach einer echten Verbindung sehnte, aufgehoben und geliebt werden wollte. Der Raum, den wir uns eigentlich zu dritt geschaffen hatten, war zu einem Raum zwischen mir und Sophie geworden, aus dem wir in regelmäßigen Abständen mit Inka ausbrachen. Sie fühlte sich ausgeschlossen und war eifersüchtig. Sie suchte nach Nähe und Sicherheit, doch wir hatten ihr bloß Abenteuer und Freiheit zu bieten.
Wie konnte ich mich so irren? Warum hatte ich nicht bemerkt, dass Inkas Bedürfnisse in meiner Beziehung zu Sophie untergegangen waren? Was war geschehen, dass wir Inka nicht mehr richtig gesehen hatten? War die Liebe zu dritt vielleicht doch unmöglich?
Sophie und ich wollten und konnten das nicht akzeptieren. Wir wollten Inka dazu bewegen, bei uns zu bleiben. Wir wollten sie unbedingt umstimmen und ihr klarmachen, dass wir uns ändern könnten, jetzt, wo wir verstanden hatten, was sie brauchte. Wir ahnten wohl beide schon, dass das Ende unserer Beziehung zu Inka auch das Ende unserer Beziehung zu zweit sein würde. Doch Inka ließ sich nicht überreden, ihr Entschluss stand fest und sie wollte nach Hause, also brachten wir sie wieder zum Bahnhof.
Die Liebe zu dritt, oder zu viert, scheint also doch möglich zu sein
Als wir dem Zug hinterhersahen, war es beinahe wie an dem Tag, als wir Inka das erste Mal hierher begleitet hatten. Was jetzt?
Diesmal suchte meine Hand nicht die von Sophie, denn ich wusste, dass der Raum, in dem unsere Beziehung stattgefunden hatte, nicht mehr da war. Wir hatten durch Inka zueinandergefunden und hätten uns komplett neu erfinden müssen, um weiterhin ein Paar zu sein. Wir versuchten es noch für eine Weile, doch nach ein paar Wochen wurde uns klar, dass es das Beste für uns wäre, neue Wege zu beschreiten und unser Liebesglück anderswo zu finden.
Doch die Geschichte ist noch nicht vorbei, dies ist nicht das tränenrührige Ende einer Seifenoper. Sophie ist frei und glücklich geworden, sie hat vor einem Jahr ein Kind bekommen und zieht es nun gemeinsam mit zwei Vätern auf. Die Liebe zu dritt, oder zu viert, scheint also doch möglich zu sein. Inka ist in den letzten Zügen ihres Studiums und schaut gespannt einer aufregenden Zukunft entgegen. Und ich? Ich schicke diesen Text jetzt an Inka, damit sie ihn Korrektur liest. Ich werde ihr schreiben, wie verrückt es ist, sich an unsere wilden Anfänge zu erinnern und wie dankbar ich bin, dass wir nach all den Irrungen und Wirrungen wieder zueinandergefunden haben.
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