Berlin-Der Fall Julian Reichelt bewegt das Land. Die Offenlegung des Machtmissbrauchs durch den ehemaligen Chefredakteur der Bild-Zeitung lässt tief blicken in die Strukturen des Axel-Springer-Verlags in Deutschland. Viele der Probleme liegen offen auf dem Tisch. Andere, weitere werden hinter vorgehaltener Hand kolportiert. Die Erschütterung ist groß, aber auch die Häme angesichts des Sturzes eines der mächtigsten Medienmenschen dieses Landes, vor dem man noch vor wenigen Wochen wirklich Angst haben konnte. Die Bild-Zeitung ist dazu fähig, Existenzen und den Ruf von Einzelpersonen zu gefährden, ja schlimmstenfalls zu ruinieren.
Plötzlich sehen sich das Team der Bild-Zeitung sowie Julian Reichelt und Mathias Döpfner als Anti-Helden eines Skandals, einer medialen Schlammschlacht, wie sie normalerweise die Redaktion der Bild-Zeitung mit ihrer ganzen Medienmacht zu inszenieren und zu steuern weiß. Dieses Mal scheinen sich die Rollen vertauscht zu haben, die Bild-Zeitung spürt den Kontrollverlust. Repräsentanten und Mitarbeiter des Axel-Springer-Verlags stellen sich schützend vor Julian Reichelt, bedanken sich für seine Arbeit, betreiben Schadensbegrenzung, erinnern daran, dass es sich bei Reichelts Verstößen nicht um #MeToo-Fälle oder sexuelle Übergriffe, sondern um Regelbrüche in einem internen Compliance-Verfahren gehandelt habe. Plötzlich wird auf Präzision, ja auf die Exaktheit der Begriffe, man könnte fast sagen: auf Fakten, wert gelegt.
Die Ironie ist nicht ganz von der Hand zu weisen
Der Chefredakteur der Welt-Gruppe, Ulf Poschardt, solidarisiert sich mit seinem Chef Mathias Döpfner, indem er „I love @axelspringer“ twittert, sich über eine Phalanx an Bild- und Axel-Springer-kritischen Berichten aus dem Wochenmagazin Der Spiegel echauffiert und eine Nachricht teilt, in der ein Geschäftsführer eine Art „Anti-Springer-Festspiel-Woche“ zu beobachten glaubt. Plötzlich fordern die Axel-Springer- und Bild-Mitarbeiter etwas ein, was man normalerweise von ihnen erwartet, aber nicht immer geliefert bekommt: präzise und faire Berichterstattung, einen respektvollen Umgang mit Menschen, die sich nicht als Personen des öffentlichen Lebens verstehen, seriösen, akkuraten Journalismus, der eint und nicht spaltet – also Brücken baut in einem demokratischen Willensbildungsprozess.
Es muss wahrlich komisch sein, plötzlich auf der anderen Seite zu stehen und emotional die aufrüttelnden Stationen einer medialen Tour de force durchzustehen, in der sich Verdachtsmomente mit Gerüchten, Spekulationen mit Fakten, gezielte Verleumdungen mit Vorwürfen über tatsächliche Regelverstöße mischen. Die Ironie ist nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn jetzt Mathias Döpfner in einer Video-Ansprache an die Mitarbeiter des Axel-Springer-Verlags eine einseitige Berichterstattung durch die New York Times beklagt und ein Netzwerk von ehemaligen Bild-Mitarbeitern identifiziert, die ein Interesse daran gehabt haben sollen, Julian Reichelt zu stürzen. „Im Hintergrund wirkten Männer, die erkennbar das Vorgehen organisierten, das waren alle ehemalige Mitarbeiter von Bild, und die Motive waren sehr klar, es ging darum, Reichelt wegzubekommen. Dabei wurde ein sehr drohender, fast erpresserischer Ton angeschlagen.“
Man wollte am Prinzip der Unschuldsvermutung festhalten
Julian Reichelt, so Döpfner, habe die Unwahrheit gesagt und trotz der Verpflichtung, einvernehmliche Beziehungen zu Bild-Mitarbeiterinnen offenzulegen, lange nicht preisgegeben. Deshalb musste er laut der offiziellen Version gehen. Deshalb auch, so Döpfner, weil der Axel-Springer-Verlag aus persönlichkeitsschutzrechtlichen Gründen Protokolle der Betroffenen nicht einsehen wollte. Teile dieser Protokolle seien aber später durchgesickert, unter anderem in Berichten der New York Times und der Ippen-Gruppe. Man habe lange an Julian Reichelt festgehalten, weil die gröbsten Anschuldigungen nicht bewiesen werden konnten, man Reichelt eine zweite Chance geben und am Prinzip der „Unschuldsvermutung“ festhalten wollte.
Auch in diesen Argumenten klammert sich Döpfner an Begriffe, die für die Redaktion der Bild-Zeitung im Alltag selten höchste Priorität haben. Wenn er sagt, dass das Kulturproblem den Axel-Springer-Verlag nicht generell, sondern die Bild-Zeitung im Speziellen betrifft, dann mag er damit sogar recht haben. Doch zugleich müsste Mathias Döpfner offen eingestehen, dass der Respekt, den er jetzt von seinen führenden Mitarbeitern einfordert, in der Ära Reichelt willentlich übergangen wurde – sehenden Auges. Etwa in der schwierigsten Phase der Pandemie, als die Bild-Zeitung über Christian Drosten unfair berichtete und ihn regelrecht durch die mediale Manege trieb. Um nur ein Beispiel zu nennen.
Vieles spricht dafür, dass sich wenig verändern wird
Es ist wahr, dass die Bild-Zeitung während der Pandemie einen regierungskritischen Kurs gefahren hat, der der Öffentlichkeit eine andere Perspektive auf die Pandemie offenbarte. Das ist Kernaufgabe des Journalismus. Reichelt hat die Regierungsmaßnahmen gegen die Pandemie als übertrieben bewertet, eine Haltung, die man haben kann. Doch die Art und Weise, wie seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Hass auf Christian Drosten kanalisierten, war abstoßend und eines Mediums unwürdig. Niemand aus der Geschäftsführung des Axel-Springer-Verlags erkannte den respektlosen Umgang mit dem Virologen und machte der Hexenjagd ein Ende. Die aktuellen emotionalen Bekenntnisse von Mathias Döpfner und dem Reichelt-Vertrauten Paul Ronzheimer wirken jetzt wie durchtränkt von Krokodilstränen. Die Doppelmoral offenbart sich in ihrer ganzen Schizophrenie.
Es ist nicht die Zeit, auf Einzelpersonen mit dem Finger zu zeigen. Das, was man an der Berichterstattung der Bild-Zeitung kritisiert, sollte man jetzt nicht imitieren, indem man in einem Gefühl von Rache und Häme noch einmal draufhaut und Menschen wie Julian Reichelt medial und öffentlichkeitswirksam auspeitscht. Man sollte nicht die Standards der Bild-Zeitung übernehmen. Momentan stellt sich eine ganz andere Frage: Wird es tatsächlich eine Kulturreform bei der Bild-Zeitung geben, wie es Mathias Döpfner jetzt verspricht? Wird die Bild-Zeitung unter dem neuen Chefredakteur Johannes Boie seriöser berichten, fairer mit Menschen umgehen, sich disziplinierter verhalten? Oder geht es nur um interne Personalfragen, die mit der Art und Weise, wie bei der Bild-Zeitung Bericht erstattet wird, nichts zu tun haben?
Vieles spricht dafür, dass die medienethische Ausrichtung der Bild-Zeitung gar nicht auf dem Seziertisch liegt. Mathias Döpfner selbst zeigte ja in seiner skurrilen SMS, die die New York Times (unfairerweise!) veröffentlicht hat, dass er von höheren Mächten ausgeht, die Julian Reichelt schon immer gestürzt sehen wollten. Die Berichterstattung der Bild-Zeitung wird durch Döpfner ja explizit gelobt, indem er Reichelt noch vor dem Rausschmiss als einen der letzten mutigen Journalisten dieses Landes bezeichnet, der sich gegen die Autorität der Bundesregierung stellt (gegen die Apparatschiks in einer DDR 2.0, die eine Pandemie inszenieren?). Man kann nur spekulieren, was Döpfner mit seinem DDR-Vergleich explizit gemeint hat. Eine Kritik an der Ausrichtung der Bild-Zeitung klingt jedenfalls anders.

