Porträt

Meine Nachbarin ist jetzt TikTok-Star, wie hat sie das geschafft?

Die Nachbarin unseres Autors ist mit Tutorials auf TikTok berühmt geworden. Was ist das für ein Leben? Ein Einblick in die Welt der neuen Sozialen Medien.

„Das Glatte ist die Signatur der Gegenwart“: die Influencerin Kati bei der Arbeit.
„Das Glatte ist die Signatur der Gegenwart“: die Influencerin Kati bei der Arbeit.Daniel Sadrowski

„Ich bin Kati, und wenn ihr mehr hiervon sehen wollt, folgt mir.“ Diesen Satz muss meine Nachbarin jetzt schon mehrere tausend Male in ihre Kamera gesprochen haben. Mehr als eine Million Menschen sind dieser Aufforderung bereits gefolgt. Meine Nachbarin ist ein TikTok-Star.

Bei unserer ersten Begegnung zieht Kati, die mit vollem Namen Katharina Rohde heißt, 22 Jahre alt ist und bei TikTok den Kanal „tutorialsbykati“ pflegt, gerade ein und legt graues Linoleum über den schönen Holzdielenboden ihrer Altbauwohnung. „Warum machst du das? Holzdielen sind doch total schön!“ – „Aber die sind so abgerockt, die müsste man erstmal abschleifen und lackieren.“ Wir tauschen Nummern, falls mal etwas ist.

Manchmal ist etwas, und ich frage zum Beispiel nach, ob zufällig mein Hermes-Paket bei ihr gelandet ist, ohne dass der Dienst einen Zettel im Briefkasten gelassen hat, oder ob eigentlich wirklich sonntagnachts um 2 Uhr die Waschmaschine schleudern muss. Dabei fällt mir jedes Mal auf, dass sie ein neues WhatsApp-Profilbild hat. Perfekt inszenierte Fotos vor schönen Hintergründen mit makellosem Make-up und sportlich-stylischen Klamotten. Arbeitet sie für eine Modelagentur?

Die Influencerin Kati ist professionell aufgestellt.
Die Influencerin Kati ist professionell aufgestellt.Daniel Sadrowski

Influencer sind oft weiblich

Immer wieder stehen Pakete für sie im Hausflur, und irgendwann begegnet mir dort ihr Freund: Irgendwie sei ein Tier in ihren Keller gelangt. „Ich kümmer mich jetzt darum. Ich will Kati ein bisschen den Rücken freihalten, ihr TikTok-Profil geht gerade ziemlich durch die Decke.“ Dieser Satz weckt meinen journalistischen Instinkt. TikTok? War das nicht dieses chinesische Instagram mit Videos statt Bildern, das Donald Trump verbieten wollte, damit China nicht die Daten  Millionen junger Amerikaner sammelt – so wie die Big Five aus dem Silicon Valley es seit Jahren ganz selbstverständlich mit den Daten von Menschen aus der ganzen Welt tun?

TikTok gibt es jetzt seit etwa dreieinhalb Jahren, und Quellen besagen, dass keine App in den vergangenen Jahren häufiger heruntergeladen worden sei. Die Zahl der aktiven Nutzer übersteige mittlerweile eine Milliarde. Eine Milliarde! Dass es mittlerweile nicht wenige Menschen gibt, die von ihren Social-Media-Accounts leben können, ist bekannt. Meistens sind sie sehr erfolgreich auf Instagram unterwegs – finanziell am erfolgreichsten, wenn sie keine politischen Botschaften in die Welt setzen und sich etwa für Feminismus oder Umweltbewusstsein und Nachhaltigkeit stark machen, sondern wenn sie sich als Werbeplattformen  anbieten.

Influencer sind oft weiblich und entsprechen gängigen Schönheitsidealen. Als Journalist kann man sie zum Beispiel auf Gruppenreisen treffen, zu denen Tourismusverbände einladen, um bestimmte Regionen zu vermarkten. Bei Influencern müssen sie nicht wie bei „richtigen Journalisten“ fürchten, dass sie anfangen, hinter die schönen Fassaden der Hotels, Strände oder Skipisten zu schauen und investigativ über die Regionen zu recherchieren. Mit ihnen haben sie Marketingverträge geschlossen: 10.000 Euro für fünf Posts, zehn Storys und einen Blogeintrag zum Beispiel. Die Instagram-Stars nutzen dann die schönen Orte, um sich davorzustellen und ihren Followern zu sagen: „Ich habe es heute super genossen, mich in diesem Spa, an diesem Strand, in diesem Pool des thailändischen Luxusressorts zu entspannen. Wo geht eure nächste Reise hin? Was tut ihr, um euch zu entspannen?“

Der TikTok-Star von nebenan: Technik ist die halbe Miete.
Der TikTok-Star von nebenan: Technik ist die halbe Miete.Daniel Sadrowski

Kati hat eine Million Follower

Was für eine Art von Influencer ist wohl Kati, meine Nachbarin? Einmal habe ich sie auf einer Fahrraddemo für die Verkehrswende getroffen. Da erzählte sie mir, dass ihr das Thema ein Anliegen sei und sie sich auch vegetarisch-vegan ernähre. Ist sie vielleicht „Sinnfluencerin“ – ein Begriff, der seit einiger Zeit für Influencer mit Umweltanliegen kursiert? Als aufstrebender TikTok-Star wird sie sich wahrscheinlich nicht verstecken wollen, also google ich ein paar Begriffe um den Namen Kati und entdecke zuerst ihren Instagram-Account mit immerhin 22.500 Followern. Das könnte schon reichen, um zu kleineren Pressereisen eingeladen – vielleicht nach Bayern oder an die Ostsee – oder um mit Beauty-Produkten beschickt zu werden, die sie dann in ihren Storys vorstellt.

Aber Kati erstellt offenbar keine Reise- und auch keine Beauty-Inhalte in dem Sinne, dass sie vor der Kamera Pflege- oder Schminkprodukte testet. Vielmehr postet sie diese sporty-stylischen Modelbilder, die ich von WhatsApp kennen – und kurze Videos, in denen sie Sachen erklärt: sogenannte Tutorials. In schnellen Schnitten erlebe ich, wie sie in mehreren Schritten mit Schokolade überzogene Kuchenstücke am Stil für eine Silvesterparty herstellt. Oder wie man sich mit einer neuen Foto-App alt aussehen lassen kann. Auf dem Bildschirm steht: „Omi?“

Im Vorstellungstext bei Instagram, der kurz „Bio“ genannt wird, wirbt Kati für ihr TikTok-Profil: „1 Mio“ steht in Klammern hinter ihrem Benutzernamen – und tatsächlich: Sie hat eine Million Follower! Ich greife sofort zum Handy: „Können wir uns treffen? Ich will eine Story über dich machen.“ – „Klar, gerne, sag einfach, wann du Zeit hast.“

Was man als TikTok-Star verdient

Jetzt verstehe ich, warum sie graues Linoleum über ihre angemackten Holzdielen gelegt hat. Ihre Wohnung muss auch ein gutes Studio abgeben, einen Traum aus Grau und Weiß. Auf einem weißen Küchentisch steht ein schwarzer Desktop-Computer, der irgendwie offen aussieht und mit verschiedenen farbigen Leuchtdioden ausgestattet ist. „Das ist mein Gaming-PC“, sagt sie, „weil manchmal spiele ich auch live Computerspiele wie Roblox, und meine Follower bei TikTok können dabei zugucken und kommentieren.“

Kati hat zwei Monitore, eine Softbox und ein Ringlicht für die perfekte Beleuchtung, und natürlich eine Webcam, ein aktuelles Smartphone, eine Systemkamera und ein Headset. Eigentlich habe sie auch einen für das Computer-Gaming optimierten Tisch zugeschickt bekommen, erzählt sie. „Aber der steht schon in der neuen Wohnung.“ Kati zieht nämlich um. Die Wohnung sei für sie und ihren Freund zu klein geworden. Ich stelle also gleich die Frage, die ich mir eigentlich für später aufgehoben hatte: „Was verdient man denn so als TikTok-Star?“

„Ja, das wollen immer alle wissen, auch in den Q&As“, lacht Kati – und meint damit das Angebot, ihren Followern Frage und Antwort zu stehen, live oder in kurzen Videos, in denen schriftlich gestellte Fragen beantwortet werden. Dieses Format gehört für jeden Social-Media-Star zum Standard. Und der Standard ist offenbar auch, nicht geheimniskrämerisch zu wirken, sondern freundlich, offen und auskunftsfreudig. Oder wie der Philosoph Byung-Chul Han es ausdrücken würde: „Das Glatte ist die Signatur der Gegenwart.“ Wir mögen keine Widerstände mehr, keinen Schmerz, keine Schwierigkeit, kein Geheimnis – aber eine Zahl, die ein durchschnittliches Monatseinkommen beziffert, bekomme ich trotzdem nicht.

Die Karriere begann mit Corona

„Sobald man 10.000 Abonnenten hat, kann man sich bei TikTok für den Creator Fund anmelden“, erklärt Kati. Man muss außerdem um die 100.000 Zugriffe in den letzten 30 Tagen gehabt haben und soll originale Inhalte kreieren. Solche Kreatoren unterstützt TikTok nach einem komplizierten Bezahlsystem. Es kursieren unterschiedliche Angaben darüber, wie viel der Fond ausschüttet: zwischen 1 und 2 Cent für 1000 Video-Ansichten. Katis erfolgreichste Videos hatten laut ihrer Aussage vier bis sechs Millionen Ansichten. Das wären etwa 50,- Euro pro Video maximal.

„Mehr Geld kann man mit Firmenkooperationen verdienen“, erklärt Kati, und die gebe es in letzter Zeit auch immer wieder. „Letztens bin ich zum Beispiel zu BMW in München gefahren und habe einen Spot für die gedreht.“ Dabei stellt sie im kurzen und knappen TikTok-Stil praktische Features neuer Automodelle vor.

Eigentlich sieht sie sich aber als „Tanzlehrerin im Internet“. So hat alles angefangen: „Im März 2020 habe ich mein Architekturstudium abgebrochen, Corona fing an, und ich habe selbst viel TikTok konsumiert. Ich fragte mich: Warum nicht mal selbst was posten?“ Da sie schon länger im Verein HipHop tanzte und schon vorher Tanzvideos gedreht hatte, bot sich das auch für TikTok an. „In meinem ersten Video habe ich eine Körperwelle oder Bodywave getanzt“, erinnert sie sich. Nach und nach stieß das auf das Interesse von anderen Nutzern, die dann fragten: „Wie machst du das? Kann man das nachmachen?“

Aussehen ist nicht alles, aber es hilft bei TikTok.
Aussehen ist nicht alles, aber es hilft bei TikTok.Daniel Sadrowski

Zeitungsartikel sind nur noch was für Omas

Wenn der Algorithmus erkennt, dass ein Video Interesse erregt, schlägt er es immer mehr Nutzern auf ihrer persönlichen Startseite vor. „Manchmal bringt mir ein Video auf einen Schlag 5000 neue Follower“, sagt Kati, die man sich nicht als faule Studienabbrecherin vorstellen darf, die ein bisschen im Internet rumdaddelt. Im Gegenteil, sie ist ein echtes Organisationstalent: Neben ihrem TikTok-Profil pflegt sie auch Auftritte bei Instagram, YouTube und Snapchat, spürt Trends auf, stellt jeden Tag zwei bis drei neue Videos online. „Ich verbringe täglich sieben bis acht Stunden vor verschiedenen Bildschirmen und versuche, möglichst viele Fragen meiner Follower zu beantworten, unterhalte mich manchmal richtig lange mit ihnen.“

Außerdem hat sie auch wieder ein neues Studium aufgenommen – Wirtschaftspsychologie –, und wenn sie weiß, dass eine stressige Klausurenphase auf sie zukommt, produziert sie vor. „Mitten im Umzugsstress gibt es vielleicht mal Tage, wo ich nur ein Video poste, aber es gab seit über einem Jahr keinen unaktiven Tag, auch nicht, wenn ich krank war.“ Bisher hat sie keine Angst, darüber ins Burnout zu fallen – wie man es manchmal von daueraktiven Influencern hört. „Wenn ich mir bewusst Auszeiten nehme und mich zum Beispiel mit Freunden treffe, dann kann ich auch komplett abschalten.“

Ihren nachhaltigen, vegetarisch-veganen Lebensstil schummelt Kati ihren Followern nur manchmal nebenbei unter – wenn sie zum Beispiel ihre Einkäufe zeigt und in den Kühlschrank einräumt. Oder wenn sie abstimmen lässt, ob sie einen Weg mit dem Fahrrad oder mit dem Auto zurücklegen soll. Mit politischen Aussagen hält sie sich bewusst zurück. „Mich hat der Erfolg mit dem TikTok-Auftritt selbstsicherer gemacht“, zieht sie eine persönliche Zwischenbilanz. „Heute traue ich mich auch, live in einer Innenstadt zu drehen, mitten zwischen Schaulustigen.“

‚Sie dreht also Videos inmitten von fremden Menschen, diskutiert mit ihren Followern, bekommt Gaming-Tische zugeschickt. Ich sitze ihr gegenüber mit Stift und Zettelblock, recherchiere für meinen Artikel, der irgendwann gedruckt wird. Auf Papier! „Bin ich ein Dinosaurier? Liest du noch Zeitung?“ – „Also, ich informiere mich schon mehr auf Newsportalen im Internet, aber manchmal reicht mir meine Oma auch einen Zeitungsartikel rüber, wenn sie was Interessantes sieht.“‘

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Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.