Ein Restaurant, das den Zusatz „Gute Stube“ im Namen trägt und sich in Schmargendorf am westlichen Rand der Stadt befindet? Ich denke, hier darf man ruhig ein paar Klischees bemühen und es sich so vorstellen: Die Dichte an Menschen über 70 Jahren ist hoch, in etwa so hoch wie die Dichte pinkfarbenen Wollmützen und Holzfällerbärten in Mitte. Lehmann's Gute Stube: Holzvertäfelung, gestärkte weiße Tischdecken und eine Karte, die – wie das Publikum – „gutbürgerlich“ ist: Darauf Kartoffelrösti mit Lachsfilet, gesottener Tafelspitz, Wiener Schnitzel und – wenn es mal etwas gewagter sein soll – ein Paprikagemüse mit Zanderfilet. Ich war dort und kann bestätigen: Die Klischees treffen zu. Auch die Speisekarte liest sich wie oben beschrieben. Nur eines wäre ein fataler Irrtum: die dortige Küche zu belächeln.
Schon die Weinkarte ist nicht zu unterschätzen. Darauf stehen nicht irgendein Chardonnay, Dornfelder oder Müller-Thurgau. Nein, sie ist gut sortiert, umfasst sämtliche Anbaugebiete sowie die wichtigsten Weinländer. Unter ihren 400 Positionen sind viele Überraschungen, etwa die Weine der Berlinerin Bettina Schumann, die sie seit 2015 mit ihrer Lebenspartnerin produziert. Ihr weißer Burgunder heißt „Bis in die Puppen“, der teilweise im Holz ausgebaute, also gereifte, kräftige Grauburgunder hört auf den Namen „Famose Schose“ – und schmeckt auch so.
Kochen als Berufung
Zum einen erklärt sich die große Auswahl an Weinen dadurch, dass zum Restaurant eine separate Weinstube gehört, in der es zum Glas oder zur Flasche Teller mit würzigem Bergkäse, Schinken und saftigen kleinen Bouletten gibt. Zum anderen, weil hinter dem Namen Lehmann’s Gute Stube jener Getränkehändler Lehmann steht, der unter dem Motto „Ick koof bei Lehmann“ bekannt ist.
Ein Dutzend Filialen gibt es allein in Berlin. In einer davon wurde ich vor Jahren von einem Mitarbeiter so blöd angepöbelt, wie man es selbst in Berlin selten erlebt. Der Grund: Mein Auto parkte draußen nicht akkurat zwischen den gezogenen Linien. Seitdem habe ich keinen Lehmann’s mehr betreten, aber Lehmann’s Getränkemarkt ist natürlich nicht gleich Lehmann’s Gute Stube - und vermutlich trägt auch Herr Lehmann nicht unbedingt Schuld an der Laune des betreffenden Mitarbeiters. Trotzdem zögerte ich. Für einen Besuch in Lehmann’s Gute Stube sprach aber der neue Küchenchef Andreas Klitsch.

Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Klitsch führte lange die Küche im Aigner am Gendarmenmarkt sowie im Alten Zollhaus am Kreuzberger Landwehrkanal, als beide Lokalitäten noch Berlins Gastro-Wegbereiter Herbert Beltle gehörten. Für meine allererste Kolumne in dieser Zeitung fragte ich Andreas, ob er mir nicht sein Lieblingsrestaurant verraten und mich dorthin begleiten wolle. Unsicher und neu, wollte ich damals nichts falsch machen. Andreas Klitschs Wissen und Rat retteten mich, mein erster Text handelte davon, was Köche bestellen, wenn sie privat essen gehen.
Für Andreas ist die Arbeit als Koch eine Berufung. Mit zehn Jahren wusste er, dass er für den Rest seines Lebens am Herd stehen will. Seit einem dreiviertel Jahr tut er dies nun in Lehmann’s Guter Stube. Als neuer Küchenchef, erzählt er, habe er nicht bei null angefangen, sondern im Minusbereich. Denn der Laden, in den viele der ältesten Gäste schon von ihren Eltern zum Bierholen geschickt wurden, hatte zuletzt keinen besonders guten Ruf mehr.
Joschka Fischer ist regelmäßig zu Gast
Klitsch hat das binnen weniger Monate geändert. Die Gäste um mich herum sind jedenfalls begeistert. Eine Dame sagt, sie sei schon zum dritten Mal in dieser Woche hier, nur wegen des Zanderfilets. Und das muntere Trüppchen mit Wanderstöcken, das gerade aufsteht, schwärmt so laut über die geschmorte Ochsenbacke, das es nicht zu überhören ist.
Auch Joschka Fischer, der in der Nähe wohnt, kommt regelmäßig. Er isst immer das Backhendl, erzählt Klitsch. Meist nimmt er ein weiteres mit – für seine Frau, wie er sagt.

Mein Mann liebt das Backhendl ebenfalls, es ist sein Leibgericht. Daher bekomme ich nichts ab, nicht mal ein Fitzelchen, auch nicht vom mit steirischem Kürbisöl angemachten Kartoffelsalat. Er sagt jedoch, beides sei hervorragend gewesen.
Satt und glücklich werde ich auch so. Gutbürgerliche Klassiker werden leider oft genug mit Convenience-Produkten verhunzt, aber nicht so bei Andreas Klitsch. Er ist Handwerker, der beim Einkauf von der Karotte abbeißt, um deren Qualität zu prüfen.
Bei der Vorspeisen-Variation, die er auftischt, ist ein handgeriebenes Kartoffelrösti dabei, so knusprig, wie es nur sein kann, ordentlich mit Muskat abgeschmeckt und einem Klacks sahnigem Quark und Forellenrogen auf dem gebeizten Lachsstück. Begeistert bin ich vom Krautwickerl. Ich hatte vollkommen vergessen, was für ein Wohlfühlgericht das ist. Allein die reduzierte Sauce ist ein Traum: darin Saft vom geschmorten, leicht verbrannten Weißkraut, der sich mit dem des Kalbshacks vermischt. Das Wickerl selbst ist innen so fluffig wie die besten Königsberger Klopse, die es hier selbstverständlich auch gibt.
Sehr empfehlen kann ich auch das Crèmesüppchen vom Rapunzelsalat, das Tartar, das Kalbstafelspitz und die Crème Caramel. Ach was, ich glaube, auf der Karte findet sich nichts, was nach einer üblichen Gute Stube-Küche schmeckt. Daher auf nach Schmargendorf!
Lehmann's Gute Stube, Heiligendammer Straße 18, 14199 Berlin; Tel.: 86 30 29 47
Restaurant:
täglich ab 17 Uhr
Weinstube:
täglich ab 17 Uhr
Weinhandlung:
Montag bis Samstag ab 16 Uhr
