Berlin-Einem „kalten Kuss“ verdankt Olaf Höhn seine Passion: einem Eisbecher, den es in der Kieler Bucht an der Ostsee gab, wo er als Kind die Sommerurlaube verbrachte. Jeden Tag, wenn er mit seinen Eltern im Strandkorb saß, fieberte er dem köstlichen Vanilleeis mit Schokoüberzug entgegen, das der Strandverkäufer in einer mit Trockeneis gefüllten Holzkiste transportierte. Zu Hause servierte der Vater, gelernter Konditormeister, bisweilen Halbgefrorenes aus Sahne und Früchten oder Kakaopulver. Aber nichts ging über den „kalten Kuss“.
Als 15-Jähriger ging der Ur-Neuköllner, der in der Nähe des Hermannplatzes aufwuchs, mit seiner ersten Liebe Magdalena, genannt Maggi, am liebsten in die kleine italienische Eisdiele an der Hasenheide, zwei Häuser neben Karstadt. Das war Mitte der 60er-Jahre. Im Angebot waren die Klassiker Schoko, Vanille, Erdbeer und Nuss. Und dann gab es noch, für damalige Zeiten, exotische Sorten wie Stracciatella und Pistazie. Serviert wurden keine Kugeln. Das Eis wurde mit einem Holzspatel in die Becher gestrichen. Die Freundin zog ihn auf und sagte: Du wirst bestimmt später ein Eiscafé haben, so gerne, wie du Eis isst! Knapp 20 Jahre später war es so weit.

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Mitte der 80er-Jahre übernahm Höhn in der Spandauer Klosterstraße das Café Annelie. Im Keller stand noch eine über einen Lederriemen angetriebene Kältemaschine, die so stark vibrierte, dass die Schwingungen im ganzen Haus zu spüren waren. Der Fan der Fernsehserie „Miami Vice“ taufte das in die Jahre gekommene Café kurzentschlossen in „Florida Eiscafé“ um. Das klang moderner. Dabei ist der Standort geschichtsträchtig – zumindest für Eisfreunde.
Bereits im Frühjahr 1927, noch ein Jahr vor der Eröffnung des Eiscafés Monheim in der Wilmersdorfer Blissestraße, das bisweilen als die älteste Eisdiele Berlins bezeichnet wird, und drei Jahre vor der Eröffnung von Eis-Hennig, konnten Besucher des Stummfilmkinos Concordia an den drei Tischen im Vorraum hausgemachtes Vanille-, Erdbeer- und Schokoladeneis genießen. Die Kugeln wurden direkt aus der damals topmodernen Trommel-Eismaschine heraus portioniert.
Dann kam der Tonfilm, und das Kino wurde umgetauft in Regina. Neue Geschmacksrichtungen kamen dazu: Haselnuss und Stachelbeere. Gegen Ende des Krieges gab es eine Zwangspause. Das Kino war von einer Bombe getroffen worden. Aber schon im Sommer 1945 florierte das Eisgeschäft wieder. Als Verkaufsstätte diente ein Holzschuppen, der Anbau einer benachbarten alten Villa.

76 Jahre später. In der Klosterstraße 15 wird heute seit bald einem Jahrhundert hausgemachtes Eis verkauft. Das Café hat knapp 200 Sitzplätze, ein weiteres, nur eine Viertelstunde zu Fuß entfernt am Altstädter Ring, bietet Platz für 250 Gäste. Olaf Höhn ist Platzhirsch im Berliner Eisgeschäft. Große Eis-Ketten mit vielen Filialen wie Da Dalt und Eis-Hennig sind weitgehend verschwunden. Florida-Eis ist noch da.
Was ist das Erfolgsrezept des Unternehmers, der sich seit mehr als dreieinhalb Jahrzehnten in einer saisonalen Branche behauptet, die nicht immer ganz einfach ist? „Ich bin jemand, der für sein Geld noch arbeitet“, sagt Höhn, der mit seinen 71 Jahren sieben Tage die Woche häufig zehn bis zwölf Stunden im Einsatz ist.
Seine kalten Köstlichkeiten werden übrigens nicht nur in seinen Cafés verkauft. Deutschlandweit beliefert der Unternehmer gut 2000 Kunden. Dazu zählen auch Hotels und Gastronomie. Seine blauen Eispackungen sind vor allem aber auch in vielen Supermärkten zu finden. Eine Mischkalkulation, die ihn durch die Corona-Zeit gerettet hat, als die Cafés geschlossen bleiben mussten. Jetzt blickt er nach vorne. Er sei ein unverbesserlicher Optimist, sagt er. „Sonst kann man so eine Firma nicht führen.“
Olaf Höhn geht immer wieder neue Wege. Vor ihm liegt eine Sammlung von kompostierbaren Löffeln und innovativen Naturpapierverpackungen. Mittlerweile gilt sein kleines Eisimperium als Musterbetrieb in Sachen Klimaschutz. Dank neuester Technologien gelang es, in acht Jahren 3000 Tonnen CO2 - das entspricht etwa der durchschnittlichen Jahresemission von 375 Deutschen - zu sparen. In Zukunft soll das Eis nur noch mit Elektrofahrzeugen ausgeliefert werden. Die Bürowand ist tapeziert mit Auszeichnungen: IHK-Klimaschutzpartner des Jahres, Familienunternehmer des Jahres oder Förderpreis von Made in Berlin.
Den Erfolg verdankt das Unternehmen nicht nur klugen Entscheidungen und cleveren Konzepten, sondern vor allem seinem Eis. Viele der Florida-Eissorten sind laktose- und glutenfrei. Beim Fruchteis wird auf künstliche Aromastoffe verzichtet. Vieles geschieht noch in Handarbeit wie das Rösten von Mandeln und Nüssen. Das Besondere: Es wird darauf verzichtet, in das Eis zusätzlich Luft einzublasen. Deswegen sind die Becher kleiner, aber deutlich schwerer als industriell hergestelltes Eis. 440 bis 480 Gramm wiegt der 500-Milliliter-Becher. 91 Rezepte hat Florida-Eis inzwischen entwickelt. Etwa 45 Sorten sind derzeit im Handel.

Doch sich einfach auf seinem Erfolg ausruhen, das funktioniert für Höhn nicht. „Man muss hellwach sein“, sagt er. Schließlich ist der Gastronomiemarkt hart umkämpft. Und er weiß auch: „Die Eisszene in Berlin wird jünger, da müssen wir uns anstrengen.“
Tatsächlich schläft die Konkurrenz nicht. „In Berlin gibt es etwa 70 Eisproduzenten, die Mitglieder der Industrie- und Handelskammer (IHK) sind“, berichtet Melanie Schindler, die Stellvertretende Pressesprecherin der IHK Berlin. Die meisten Unternehmen befinden sich laut Schindler in Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte, „überwiegend Kleinstbetriebe“. Kleiner als Florida-Eis, aber bisweilen äußerst kreativ. Das kommt an beim jungen Großstadtpublikum: veganes Eis oder Eis aus lokal produzierten Zutaten wie Honig oder Joghurt von der Domäne Dahlem oder vom Bio-Hof in Brandenburg.
Rund 500 Eisdielen - in diesen Tagen sind sie wieder gut besucht - gibt es in der Stadt, schätzen die Veranstalter der Berlin Ice Cream Week, die vom 6. bis zum 12. Mai über die Bühne ging. Das Festival findet jährlich in rund 30 ausgewählten Eisdielen statt. Jeder Teilnehmer kreiert für das Event einen neuen Geschmack. Die Kugel kostet nur einen Euro. Damit soll die Kreativität des Handwerks gefeiert werden. Die Schleckermäuler pilgern von Eisdiele zu Eisdiele von der Prenzlauer Allee bis nach Lichterfelde Ost. „Etwa 30.000 Kugeln gingen in diesem Jahr zusätzlich über die Ladentheke in nur einer Woche“, sagt Francesca Caglio, die das Festival mit organisiert hat.
Die Geschmacksrichtungen der „Sonderkugeln“ reichten von innovativ, experimentell bis abenteuerlich: Spargeleis, Bananenspinat (Green Banana) oder Olivenöleis. Auch Kreationen mit Alkohol waren dabei: Primitivo-Sorbet oder Zabaione Marsala. Manche Sorten klingen eher nach Abendessen als nach Süßspeise wie das Avocado-Sorbet mit Tomatensoße. Francesca Caglios persönliches Highlight: Eis aus Büffelmilch-Ricotta, Birne und Schokolade mit Cayennepfeffer.
Wäre auch Olaf Höhn bereit für solche kulinarischen Experimente? Würde er auch ein Ketchup-Eis essen? Na klar! Er hat schon alle möglichen und unmöglichen Rezepte probiert: Er liebt das fetthaltige russische Eis genauso wie das Sorbet vom Glacier Berthillon in Paris oder das amerikanische Brausepulver-Eis. Ebenfalls auf dem Speiseplan stand schon Eis mit Curry oder Salbei. Das schlimmste Eis aber war für ihn eines mit Sardellen-Füllung.
Da mag er es doch ein wenig konventioneller. Seit Jahrzehnten ist seine Lieblingssorte Vanille. Neuheiten gibt es bei Florida-Eis natürlich trotzdem in jeder Saison. Im Augenblick schwärmt Höhn von der hauseigenen Kreation „Double Chocolate“. Bei den regelmäßigen Verkostungen verwöhnen ihn die Mitarbeiter dann meist mit einem besonders großen Becher. „Die Damen und Herren kennen mich schon ganz gut“, sagt Olaf Höhn, der in seiner Manufaktur, die er vor acht Jahren am Zeppelinpark in Spandau errichten ließ, noch mit Anfang 70 „Mädchen für alles“ ist und die Treppen hoch und runter rennt.

Wenn er von seinen Angestellten spricht, leuchten seine Augen. Er hat „eine tolle Mannschaft. Menschen aller Couleur und aller Religionen.“ Darunter einen kamerunischen Mitarbeiter mit dem urdeutschen Namen Otto Bismarck. Er selbst bezeichnet sich als Weltbürger. Seine Mutter stammt aus Amsterdam. Mitten im Zweiten Weltkrieg haben die Eltern in Holland geheiratet.
Er interessiert sich für seine 150 Mitarbeiter – vor Corona waren es sogar 200. Er kennt ihre Familiengeschichten und verfolgt, wie ihre Kinder groß werden. Seine allererste Angestellte hält ihm seit 36 Jahren als eine seiner besten Servicekräfte die Treue. Es ist ausgerechnet die Zwillingsschwester seiner Freundin Maggi, die ihm vorausgesagt hat, er würde irgendwann ein Eiscafé eröffnen.
Wenn Olaf Höhn nach einem langen Arbeitstag abends aus seinem Büro auf die Felder des ehemaligen Flugplatzes Staaken schaut, dann weiß er: Er hat alles richtig gemacht.
