As much as food or shelter, we require hope.
Jessica Bruder, „Nomadland“
I.
Die Sonne steht tief über West Oakland, als Theo Cedar Jones aus seinem Van steigt. Er schultert seine Gitarre, wuchtet den Verstärker von der Ladefläche, die auch sein Bett ist. Eine dunkle Höhle aus Matratzen und Decken, sein Zuhause, seit er vor zehn Monaten sein altes Leben hinter sich ließ: das große Haus, die Palmen im Vorgarten, die Mitbewohner, mit denen es zuletzt ständig Streit gab, die seit der Pandemie keine Miete mehr zahlten.
Am Ende hatten sie Mietschulden von 12.000 Dollar. Da zog Theo aus, lieber obdachlos, sagt er, als dieser Stress. Er hätte Oakland verlassen können, zu seiner Mutter ziehen. Aber dazu war er zu stolz. Sich aus der Stadt vertreiben lassen, wo er seit 55 Jahren lebt, das wollte er nicht.
Er schlief eine Zeit lang auf dem Sofa im Tonstudio, in dem er mit seiner Band probte. Bis der Besitzer ihn rausschmiss. Netterweise schenkte er ihm diesen Van, einen Ford aus den Neunzigern.
Das Studio liegt an der Wood Street, hundert Meter Luftlinie von dort, wo Theo jetzt seinen Van geparkt hat. Von seinem alten zu seinem neuen Leben waren es nur ein paar Schritte. Sie waren viel leichter, als er gedacht hatte. Als Musiker hatte er jahrelang von der Hand in den Mund gelebt, selten mehr als einen Gig von der Obdachlosigkeit entfernt, dazu die Miete, die immer teurer wurde, 50 Prozent in den letzten fünf Jahren. Die Angst, auf der Straße zu landen, einer von denen zu werden, die außerhalb der Gesellschaft leben, war sein ständiger Begleiter.
580.000 Obdachlose. Das ist die offizielle Schätzung der amerikanischen Regierung, sie stammt aus dem Jahr 2020, vor dem Beginn der Pandemie. Damit ist noch nicht das Niveau aus den Zeiten der Finanzkrise erreicht, als es über 600.000 Obdachlose in den USA gab. Seit 2016 steigen die Zahlen kontinuierlich. Im März waren 6,4 Millionen Haushalte mit der Miete im Rückstand. Eine Studie der Columbia University prognostiziert, dass die hohe Arbeitslosigkeit seit Corona die Obdachlosenzahlen um 45 Prozent steigern könnte.
Man sieht es überall: Obdachlose campieren am Venice Beach in Los Angeles, schlafen in der New Yorker Metro und auf den Autobahnbrücken in Washington, D. C. In San Francisco steht eine ganze Zeltstadt vor dem Rathaus, daneben liegt das Tenderloin, ein Slum mitten in einer der teuersten Metropolen der Welt.
Obdachlosigkeit ist in den USA ein Problem, das außer Kontrolle geraten ist. Die Behörden wissen schon lange nicht mehr, wohin mit all diesen Menschen.
In Oakland, einer Stadt in Kalifornien mit nicht mal einer halben Million Einwohner, leben über 4000 Obdachlose. Theo ist einer von ihnen. Doch seine Angst vor der Straße ist etwas anderem gewichen: der Hoffnung. Und der Grund dafür ist ausgerechnet dieser Ort, die Wood Street.

Theo schließt die Autotür ab, dann stapft er los, über einen staubigen Weg, durch Berge aus Schrott und Müll.
Er ist immer noch Rockmusiker, auch wenn sein langes Haar längst grau und schütter ist, seine Hände immer dreckig sind, seit er hier lebt. Heute Abend hat er einen Auftritt, und er ist schon spät dran.
An der Wood Street endete einst die erste transkontinentale Eisenbahnstrecke, das Ziel so vieler Immigranten, die um die Jahrhundertwende gen Westen aufbrachen. Arbeiter aus Italien und Irland, Mexikaner, Puerto Ricaner und Afroamerikaner, die tagsüber im Hafen und auf dem Güterbahnhof malochten und die Nächte in den Jazzclubs auf der 7th Street verbrachten, wo Aretha Franklin auftrat und Billie Holliday. Das Harlem der Westküste.
Hier kämpften die Bewohner in den 60er-Jahren einen vergeblichen Kampf gegen die Bulldozer, die ihre Häuser abrissen, um Platz zu schaffen für ein Verteilungszentrum des US Postal Service, für die Hochbahn, die Freeways, die das Viertel durchschnitten und unbewohnbar machten. Aus den Protesten formierten sich die Black Panther, die an der Wood Street ihren Hauptsitz hatten.

Die drei Monate verbrachte sie auf der Wood Street, wo die Fotos zu unserer Geschichte entstanden.
Als Theo hier ankam, war nichts mehr übrig von den Utopien der Vergangenheit. Hier war immer noch Endstation, nur verhieß die nicht mehr, das Einwanderungstor ins „gelobte Land“ zu sein. An der Wood Street liegt heute eines der größten Obdachlosencamps der USA. Es ist ein Ort, wo die Oaklander nachts ihren Sperrmüll und Schrott abladen und die Stadt die Menschen hinschickt, für die sie keine Wohnungen hat. Und keine Verwendung.
Das geht schon seit Jahren so, aber in der Pandemie schlossen viele der ohnehin schon wenigen Obdachlosenunterkünfte. Die Behörden ordneten daraufhin an, Camps nicht zu räumen. Unter freiem Himmel steckten sich die Menschen weniger mit dem Coronavirus an.
Plötzlich waren sie an der Wood Street nicht mehr Dutzende, sondern Hunderte, die ihre Zelte und Autos und Wohnmobile unter den Highway stellten, die Interstate 880, ein Viadukt aus Stahl und Beton, das sich in alle Himmelsrichtungen verzweigt. Nach San Francisco im Westen, Oakland im Osten, Berkeley im Norden. „Maze“ nennen sie diese Kreuzung, ein Autobahnlabyrinth.
Es war November, als Theo hier ankam. Als Erstes lernte er, dass ein Van im Winter kein guter Platz zum Schlafen ist, lernte, dass man ein Zelt braucht, über das man Decken in mehreren Schichten drapiert, damit die eigene Körperwärme die Heizung ersetzt. Auf das Dach seines Vans montierte er eine Solaranlage, Strom ist rar auf der Wood Street. Theo hat gelernt, wie man die Leitungen von Straßenlaternen anzapft, was aber immer mit der Gefahr verbunden ist, sich einen Stromschlag zu holen.
Neben seinem Zelt hisste Theo die amerikanische Flagge. Denn war das, was er hier gefunden hatte, nicht so etwas wie der rohe amerikanische Traum? Absolute Freiheit, das Recht darauf, einfach zu existieren.
Theo läuft die Wood Street hinauf, vorbei an ausgebrannten Autos, aus denen ein paar Jungs die letzten brauchbaren Teile montieren; vorbei an Wohnmobilen, auf deren Dächern sich Fahrradschläuche türmen. Ein Kampfhund springt hervor, dessen Leine bis knapp an die Straße reicht.
Theo steigt über eine tote Ratte und leere Packungen Naloxon, ein Gegengift, mit dem sie allein in der letzten Woche drei Leute nach einer Überdosis Fentanyl zurückgeholt haben. Das Opioid Fentanyl ist 50-mal stärker als Heroin.
Ein Güterzug rumpelt vorbei, sein ohrenbetäubendes Pfeifen übertönt ein paar Sekunden lang das ewige Rauschen des Highways.
Das ist der Alltag hier an der Wood Street, hart, laut und dreckig.
Theo sagt, er würde sein Leben gegen kein anderes eintauschen, schon gar nicht gegen eines in einer Box. So nennt er es, das Leben zwischen vier Wänden und mit einem Dach über dem Kopf. Das Leben, vor dem er geflohen ist.
170 Songs hat er mit seiner Band aufgenommen, psychedelischen Rock, der klingt wie aus einer anderen Zeit. Zuletzt hatten sie kaum noch Auftritte, Platten kauft schon lange niemand mehr. Jetzt spielt Theo unter dem Highway.
Seine Bühne ist ein selbst gezimmertes Podest, dahinter steht einer dieser Bauzäune aus Sperrholzplatten, den ein Künstler im Haight Ashbury, dem Hippieviertel von San Francisco, abmontiert und hier wieder aufgebaut hat. Zehn Meter lang, ein riesiges Street-Art-Gemälde, das Profil einer Frau wie aus einem Science-Fiction-Film, halb Alien, halb Mensch. Zwischen den Betonpfeilern sieht es aus wie das Altarbild in einer brutalistischen Kathedrale, so nennt Theo diesen Ort. Er sieht Schönheit, wo andere nur Verfall sehen.

Homeless. Obdachlos. Was für ein unpassendes Wort, findet er. Home is where your heart is. Oder, nach einer Definition des kalifornischen Staats: Obdachlos ist, wer keine feste Adresse, keinen Platz zum Schlafen hat.
Theo ist nicht obdachlos, er hat nur keine Wohnung.
Und warum soll man so nicht leben dürfen? In den vergangenen Monaten ist in Theo eine Idee gewachsen. Eine Idee von einem Ort, an dem Menschen leben können, die sonst keinen Platz in der Gesellschaft haben, gemeinsam, frei, wo sie teilen, was sie haben, sich gegenseitig helfen und aufeinander aufpassen. „Commons“ nennt er es, ein Wort, für das es keine passende deutsche Übersetzung gibt. Und das hier, die Wood Street, soll der Ort sein, an dem Theos Idee Wirklichkeit wird: Wood Street Commons. Das ist seine Hoffnung.
Theo sitzt auf einem Stuhl, der Generator läuft, er stöpselt seine E-Gitarre ein, seine Stimme ist hell und klar. Er sieht glücklich aus.
II.
Vor der Bühne stehen Hütten aus Lehm. Eine Gruppe Künstler hat sie errichtet, in den Wänden sitzen Glaswürfel, auf den Dächern wächst Gras. In einer Hütte ist die Küche untergebracht, in den Regalen Dosenbohnen, im Kühlschrank Hühnchen mit Reis, abgepackt in Plastik; in einer anderen Hütte liegen Verbandszeug, Einwegspritzen, viele volle Packungen Naloxon, nebenan ist eine Kleiderkammer. Eine Dusche mit warmem Wasser. Ein Kompostklo.
Es ist eine Oase mitten im Chaos. Sie nennen es „Cob on Wood“. Vor den Hütten haben Künstler Gärten mit Tomaten und Sonnenblumen angelegt. Einen Lagerfeuerplatz. Einen Pizzaofen, in dem Holzscheite glühen.
Jeden Sonntag gibt es Pizza. Und was sie sonst so auftreiben können. Tacos, frisches Gemüse, Aufschnitt, Käse.
Das Lagerfeuer qualmt mehr, als dass es brennt, jemand hat einen Haufen Salbeiblätter hineingekippt, der Qualm riecht scharf und brennt in den Augen. Annmarie Bustamente sitzt mittendrin. Sie ist eine schmale junge Frau, die Haare liegen in langen Wellen über ihren Schultern. Sie hatte sich fest vorgenommen, um sieben zu gehen, jetzt ist es halb acht und sie ist immer noch da.

Amelia Rayno
Sie hat so viel Zeit hier verbracht in den vergangenen Monaten. Mit der Pandemie wurde sie arbeitslos. Annmarie ist Modedesignerin, sie entwarf Kostüme für Festivals, kleidete einen Musiker für die Grammys ein, hatte gerade ihr eigenes Label gegründet. Zwischendurch arbeitete sie als Fahrerin für Lyft, den Taxiservice, dessen Hauptquartier nur zwei Blöcke von der Wood Street entfernt liegt.
So ist das in der Bay Area, der Gegend rund um die Bucht von San Francisco: Wenn man hier einen Stein wirft, trifft man entweder einen Millionär oder einen Obdachlosen.
„Es ist ein Ort, der Leute anzieht, die etwas anderes wollen“, schreibt der New-York-Times-Autor und Oaklander Conor Dougherty in seinem Buch „Golden Gates“ über die Wohnungskrise an der Westküste. „Reich werden, sexuelle Freiheit haben, sich politisch radikalisieren, manchmal alles auf einmal. Was sie zusammenhält, ist die Sehnsucht danach, eine Kultur aufzubauen, die in Amerika eher eine Ausnahme ist als eine Erweiterung.“
Die Mieten in der Bay Area gehören zu den teuersten im ganzen Land. Wer hier Künstler sein will wie Annmarie, stückelt sich seinen Lebensunterhalt zusammen. Von Auftrag zu Auftrag. Das war mit der Pandemie vorbei. Wenn es keine Festivals gibt, braucht auch niemand ein Kostüm.
Annmarie bekam Arbeitslosengeld und Corona-Hilfen. Natürlich war das längst nicht so viel, wie sie sonst verdient hätte. Was den Unterschied machte: Seit einem Jahr zahlt sie auch keine Miete, Vermieter dürfen niemanden auf die Straße setzen, der wegen Corona kein Geld verdient. Sie hatte plötzlich sehr viel Zeit. Sie wurde Vollzeitaktivistin.

Ein halbes Jahr bevor die Pandemie begann, hatte sie ein altes Zelt gespendet, als in ihrer Nachbarschaft ein Obdachlosencamp niedergebrannt war. Wenn sie nach ihrer Schicht bei Lyft nach Hause fuhr, konnte sie es vom Freeway aus sehen. Es ist ein warmes Gefühl, sagt sie, zu wissen, dass es jemandem besser geht, weil du etwas mit ihm geteilt hast.
Auf der Wood Street half sie, die Lehmhäuser zu bauen, „Artists Building Communities“ nannten sie und die anderen Künstler ihre Gruppe, unterstützt wurden sie von der NGO „Essential Food and Medicine“.
An den Wochenenden sammelt Annmarie Müll auf dem Gelände unter den Highways, bergeweise. Sie zimmert mit den anderen Künstlern Tiny Houses, zehn Stück haben sie bereits fertiggestellt. Die Bewohner der Wood Street stimmen darüber ab, wer einziehen darf. Sie filmt alles für Instagram, sie geht zu Protesten, sie schickt Theo Erinnerungen, damit er pünktlich zu seinen Auftritten kommt, sie räumt die Küche auf und die Klinik. Weil es jemand machen muss, sagt sie, und weil die Menschen auf der Wood Street andere Probleme haben.
Es ist ein schöner Abend, die Sonne, die untergeht, Theo und seine Gitarre, das Essen, das Lagerfeuer. Eine kleine Belohnung für all die Momente, in denen an der Wood Street mal wieder Ausnahmezustand herrscht, jemand durchdreht, alles auseinandernimmt, abfackelt, zwischen den täglichen Schlägereien, den Verfolgungsjagden und dem ständigen Streit.
Irgendwann steht Annmarie auf und geht selbst auf die Bühne, singt einen alten Sinatra-Song. Bevor sie endlich in ihr altes Auto steigt und nach Hause fährt, gibt sie einer Frau Geld für die U-Bahn. An der Windschutzscheibe klebt noch der Sticker von Lyft, sie könnte jederzeit die App wieder auf ihr Handy laden, wieder Taxi fahren. Aber es ist nicht das, was sie will. Das Leben, sagt sie, ist so viel besser, wenn du tun kannst, was du liebst.
III.
Maven kommt aus der Dusche. Wasser tropft aus ihren blondierten Dreadlocks, die an den Ansätzen grau sind. Sie trägt ein bauchfreies Top und darüber eine Latzhose, ein Träger hängt herunter. Sie wühlt in ihrer Handtasche, holt eine Bohrmaschine heraus, ein Körperpeeling, einen Rasierer, ein Döschen mit Glitzer, bis sie gefunden hat, was sie sucht: ihre Sonnenbrille, sie ist mit Strasssteinen besetzt. Maven plaudert dabei ununterbrochen. Erzählt von ihrem Leben.
Ihre reiche Familie, ihr 800.000-Dollar-Haus, ihr Garten, ihre drei Kinder. Maven war ein Trust-Fund-Baby, Tochter aus gutem Hause, eine Soccer-Mom. Und eine Burnerin. Seit 25 Jahren fährt sie zum Burning-Man-Festival in der Black Rock Desert. Nächste Woche wieder, sagt sie. Sie muss nur ihr Wohnmobil zum Laufen kriegen.
Maven schnappt sich einen Stapel Wurst vom Buffett und stopft sie sich in den Mund. Sie isst kein Gemüse. Pizza kann sie nicht mehr sehen, seit eine Pizzeria aus dem Viertel jeden Abend die Reste aus dem Restaurant hier vorbeibrachte. Maven aß jeden Abend Pizza, zwei Jahre lang.

In ihrem alten Leben hatte Maven einen großen Garten. Sie hat ihren Garten geliebt. Als sie auf der Wood Street ankam, sah sie als Erstes ein Fleckchen Gras unter dem Highway. Und Vögel. Das Gras und die Vögel waren der Grund, warum sie blieb.
Letztes Jahr hatte Maven einen Streit mit einer Frau, einer Prostituierten, sagt sie, schwer zu verstehen, worum es ging. Die andere schlug ihr mit einem Stück Asphalt den Schädel ein. Halt die Fresse, du Schlampe!
Maven lacht. Es war knapp, aber sie überlebte, wie sie alles überlebt hat, die ganzen letzten zwölf Jahre hier auf der Wood Street. Eine lange Narbe zieht sich über ihre Stirn wie bei Harry Potter. Es fällt ihr schwer, sich zu konzentrieren, sie leidet unter starker Migräne. 2020 war nicht ihr Jahr. Bei einem anderen Streit verlor sie ihre Zähne. Sie erkrankte an Covid. Zweimal. 2020 war hart. Aber Maven hat Pläne. Burning Man. Und sie will ein Buch schreiben. Wie man auf der Straße überlebt.
Erste Lektion: „Du brauchst ein Kissen, Kleider, eine Zahnbürste, Deo, vielleicht eine Bibel. Macht es einfacher zu beweisen, dass das dein Zuhause ist. Sie können dein Zuhause nicht einfach so wegnehmen. Vierter Verfassungszusatz. Und wenn du doch gehen musst, dann hast du immer noch 72 Stunden Zeit, und es reicht, 20 Meter weiterzuziehen.“ Maven kennt ihre Rechte. Martin v. Boise, ein Urteil des United States Court of Appeals for the Ninth Circuit, des höchsten Berufungsgerichts in Kalifornien: Städte dürfen Obdachlose nicht von der Straße vertreiben, wenn sie ihnen keine adäquate Unterkunft anbieten können.
2019 präsentierte Oakland stolz eine neue Idee: Tuff Sheds. Hütten, in denen die Stadt Obdachlose unterbringen wollte, immer zwei in einer, auf abgeriegelten Geländen, mit festen Öffnungszeiten und festen Hausregeln: kein Feuer, keine Kinder, keine Haustiere.
Maven würde es dort keine halbe Stunde aushalten.
In vier Jahren wird sie 60. Generation X, die Generation, die Tech erfunden hat, die nichts ernst nimmt, am wenigsten sich selbst. Es ist alles ein Spiel, sagt Maven, ein Spiel namens: Survival Man West Oakland.
Es heißt oft, Obdachlose seien die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft. Maven schnauft: „Wir sind die widerstandfähigsten Motherfucker, die es gibt.“
IV.
Am nächsten Morgen hängen graue Wolken am Himmel. Annmarie steht im Staub unter dem Highway, sie hat den Arm um eine Frau gelegt, die so zerbrechlich aussieht wie ein kleiner Vogel. Tränen haben helle Streifen über ihr schmutziges Gesicht gezogen. Sie heißt Lydia und ist eine von denen, die schon lange hier leben, sie kümmert sich um die Krankenstation, ist Künstlerin, sie ist eine starke Person, normalerweise. Aber heute morgen ist sie wach geworden, weil Bagger durchs Camp rollten. Jetzt hat sie Angst, alles zu verlieren.

Seit Wochen droht Caltrans, die Behörde, die in Kalifornien für die Autobahnen zuständig ist und der ein Teil des Geländes gehört, mit der Räumung. Die Stadt will hier ein Hochhaus bauen, Wohnraum schaffen. Ein Unternehmen, das den Namen „Habitat for Humanity“ trägt und auf seiner Website fröhliche Menschen zeigt, die vom Glück berichten, ein neues Zuhause gefunden zu haben, hat den Zuschlag bekommen. 170 Wohnungen sind geplant. 13 davon sollen an Obdachlose gehen.
Männer in gelben Warnwesten laufen zwischen den Schrottbergen hin und her, tragen Plastiksäcke voll Müll über der Schulter und schleppen sie zu einem Haufen. Ihre dunklen Gesichter sehen genauso müde aus wie die der beiden Frauen.
Es ist das zweite Mal binnen einer Woche, dass Bagger durch das Camp rollen. Beim ersten Mal hatte Annmarie eine Anwältin angerufen, die wiederum Caltrans anrief und darauf hinwies, dass die Campbewohner nicht rechtzeitig über die Aktion informiert worden waren. 48 Stunden, so lang muss die Frist sein, das ist Gesetz. Die Bagger zogen ab. Jetzt sind sie wieder da, angeblich um aufzuräumen. Außer Annmarie sind noch ein paar andere Aktivisten gekommen, filmen alles mit ihren Handys, diskutieren mit den Beamten der Highway Patrol, die gekommen sind, um den Arbeitern den Weg freizuhalten, wenn es nötig sein sollte.
Ich verstehe euch ja, sagt einer der Beamten, und dass sein Onkel auch obdachlos ist, aber er hat nun mal seine Anweisungen. So geht es eine Weile hin und her, bis klar ist, dass niemand hier die Bagger aufhalten kann. Vielleicht wollen sie ja auch wirklich nur aufräumen. Annmarie kann nur zuschauen, da sein, zeigen, dass es Menschen gibt, denen es nicht egal ist, was an der Wood Street passiert.
V.
Ein Fest. Trotz der Bagger. Oder gerade wegen der Bagger. Sie veranstalten ein Fest, das zeigt, was sie hier geschaffen haben, Annmarie und die anderen Künstler, Theo, Maven und die vielen, die hier leben, die nicht in eine überfüllte Notunterkunft ziehen wollen, die nicht wieder irgendwo auf dem Bürgersteig oder auf dem Supermarktparkplatz übernachten wollen. Die hier, an der Wood Street, zu Hause sein wollen.
Sie haben den ganzen Tag aufgeräumt. Theo hat lange Stoffbahnen über Pfähle zu einem großen Festzelt gespannt, darunter stehen alte Sofas, alle vom Sperrmüll, Couchtische mit Blumen darauf, eine lange Tafel mit Essen, eine Bar mit Wein, Saft und Whiskey. Daneben steht eine Tafel, auf die sie einen Plan von Wood Street Commons gepinnt haben, es sieht aus wie ein Dorf: Da ist ein Bäcker und ein Fahrradreparaturshop, ein Basar und ein Café und natürlich eine Bühne.

Eine Politikerin ist gekommen, ein paar Anwohner, eine Journalistin von der Lokalzeitung. Theo trägt ein Jackett von Gucci, das er auf dem Müll gefunden hat, er nimmt sich ein Mikrofon, es ist nicht ganz leicht, ihm zu folgen, was daran liegt, dass er versucht zu erklären, wem eigentlich das Land gehört, auf dem sie hier leben. Caltrans ist nur der Besitzer des Teils unter der Autobahn, der Rest gehörte lange einer Art Entwicklungsbehörde der Stadt, die es aber gar nicht mehr gibt. Irgendwann fängt Theo an zu singen, den alten Folksong von Woody Guthrie:
This land is your land, this land is my land.
From California to the New York Island
From the redwood forest to the Gulf Stream waters
This land was made for you and me
Bevor im 18. Jahrhundert die ersten spanischen Missionare in der Bay Area auftauchten, lebte dort der Stamm der Ohlone. Zehntausende starben an den Krankheiten, die die Europäer mitbrachten, an Masern, Pocken und Diphterie, sie verloren ihr Land. Vor ein paar Jahren gründeten Stammesangehörige der Ohlone eine Treuhandstiftung, mit der sie sich das Land zurückholen wollen, das ihren Vorfahren gehörte. Sie wollen darauf Gärten pflanzen, Grabstätten errichten, Nachbarschaftszentren bauen. Eines der ersten Grundstücke, das sie erwarben, liegt in West Oakland, nur ein paar Blöcke von der Wood Street entfernt.
Als Theo davon hörte, hatte er einen Aha-Moment. Denn das Obdachlosenproblem, wie er es sieht, seit er selbst auf der Straße lebt, ist kein Problem, bei dem es um Obdach geht. Obdach haben sie, ihre Zelte und Vans und Campingwagen, die Tiny Houses der Künstler. Was sie nicht haben, ist Land. Wenn ihnen das Land gehörte, sagt Theo, könnte sie niemand mehr vertreiben. Sie brauchen Land. Sie sind landlos, nicht obdachlos. „Ich hänge an diesem Stück Land“, sagt Theo, „und ich hänge an den Leuten, die hier leben. Ich gebe das nicht einfach auf.“
VI.
Es ist Herbst geworden auf der Wood Street. Regen verwandelt das Gelände in eine Seenlandschaft. Noch ist es nachts nie kälter als zehn Grad, aber nicht mehr lange, dann wird Theo in sein Zelt umziehen, unter die Schichten aus Decken.

In den vergangenen Wochen hat ein Mann, der neu war auf der Wood Street, das große Festzelt niedergebrannt; jemand anderes hat den Wassertank sabotiert, den sie gerade aufgestellt hatten; die Dusche ist immer wieder kaputt; manchmal fallen nachts Schüsse. Eines der Tiny Houses wurde von den Caltrans-Baggern zerstört, sein Bewohner sollte gerade einziehen.
Theo und die anderen bauen alles wieder auf. Das hier ist alles, was sie haben.
