Kolumne „Brutal Berlin“

Eltern sind die schlimmeren Kinder: „Bitte keine Salami, das ist zu salzig“

Unser Autor war zum ersten Mal bei einem Elternabend im Kindergarten. Er lernte, was der Streit über belegte Brötchen und Hörspiele mit Rasenmähern zu tun hat.

Stressig: ein Elternabend im Kindergarten.
Stressig: ein Elternabend im Kindergarten.Kati Szilagyi

Berlin-Popoabputzen ist seltsamerweise kein großes Thema für die Eltern. „Die Kinder sind ja jetzt in der Vorschule“, sagt die Erzieherin, nennen wir sie Nicole, „und da müssen sie sich langsam komplett allein sauber halten.“ Dazu gehöre, fügt sie an, dass sich alle Kinder den Po selbstständig abputzen. „Können Sie als Eltern bitte darauf achten, dass das auch zu Hause gut vorbereitet wird?“ Die Erzieherinnen werden selbstverständlich noch helfen, wenn nötig, sagt Nicole mit einer Stimme, die alles wie ein Lob klingen lässt. „Aber in der Schule wird das dann niemand mehr tun.“

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Diese Stille im Kindergarten, die auf diese recht pragmatische Ansprache von Nicole folgt, ist wirklich bezeichnend, vor allem, weil diese Gruppe von rund 20 Eltern sich in der vergangenen Stunde bis zur Popo-Ansprache recht häufig zu Wort gemeldet hat: zur Frage der Ausflüge, zum Frühlingsfest, zur Qualität des Salamibrotes und vor allem zum Thema Mittagsschlaf. Ich habe in dieser Woche gelernt, dass der Elternabend in einer Kindertagesstätte ein Bild der Gesellschaft abliefert, in der diese Kita steht, und auch etwas über die Welt aussagt, in der unsere Kinder einst leben werden.

Ich habe eines von 230.000 Kindern in Berlin, das unter sechs Jahre alt ist und in einer von 2700 Kitas der Stadt betreut wird. Das Kind fühlt sich wohl in der Kita, hat Freundinnen und Freunde. Während der Pandemie hatte man zu den Eltern kaum Kontakt. Deren Einfluss auf die Kinder fällt meist nur indirekt auf. Wenn zum Beispiel ein Kind beim Abholen auf mich zukommt und sagt: „Dein Hemd ist so bunt, das tragen sonst nur Frauen!“ Da möchte man gern eine Krisensitzung mit der Fashion-Polizei einberufen, auch das verhindern die AHA-Regeln.

Weihnachtsgeschenk? „Nicht mehr als fünf Euro, bitte“

Jetzt sind zumindest alle Kita-Eltern und Mitarbeiter so weit geimpft, dass die Treffen mit anderen Eltern wieder stattfinden können. Wir kamen zu dritt, die beiden Mütter und ich. Doch es soll in diesem Text nicht darum gehen, wie es sich als Regenbogenfamilie im Kindergarten anfühlt. Ich glaube fast, wir waren die Unauffälligsten im Raum, wir meldeten uns eigentlich nur, wenn wir das Datum für den Lampionumzug nicht mitbekommen hatten.

Ich habe mich extra für ein dezentes Hemd entschieden, nicht, dass die anderen Eltern gleich etwas zu erzählen haben. Doch ausgerechnet eine Hochschwangere macht das größte Fashionstatement. Sie trägt ein schwarzes Kleid, das nur bis zu den Knien geht, und knallt ihre kleine glitzernde Handtasche auf den Tisch, dass alle wissen: Sie ist da und mit ihr ist nicht zu spaßen. Dabei ist sie noch nicht einmal die einzige Hochschwangere im Raum.

Zunächst verhandelt Nicole die allgemeinen Themen, während sich nach und nach die verspäteten Eltern mit schuldigem Blick hereinschleichen: Weihnachtsgeschenk („nicht mehr als fünf Euro, bitte“), Bleistifte („am besten die dreieckigen“) und ob man die Masken abnehmen dürfe („Nein“). Zwei Eltern haben trotzdem die Maske unter die Nase gezogen. Nicole entscheidet sich gegen die Diskussion zu den Corona-Maßnahmen. Als ob sie gewusst hätte, was ohnehin folgt.

„Aber meine Zwillinge sehen beide aus wie fünf, das sagen alle“

Thema 1: Ausflüge. „Einige Kinder sind fünf, andere sind sechs Jahre alt“, sagt Nicole. „Für diejenigen, die sechs Jahre alt sind, werden dann BVG-Tickets fällig, wenn die Eltern doch bitte daran denken könnten?“ Eine Mutter meldet sich: „Aber meine Zwillinge sehen beide aus wie fünf, das sagen alle.“ Nicole lächelt gelassen und kontert: „Wenn jemand die Kinder fragt, werden sie immer stolz ihr Alter sagen, das möchten wir nicht riskieren.“

Immerhin klingt das nicht so, als wäre das Kind von Helikoptereltern umgeben. Der neueste Begriff in diesem Bereich ist übrigens Rasenmäher-Eltern. Das bezeichnet die Eltern, die alles, was den Kindern schaden könnte, aus dem Weg räumen. Sie sind immer einen Schritt voraus und „mähen“ den Weg frei. Der zumindest erwartete Vorteil: Kinder haben weniger Schürfwunden. Der Nachteil, zumindest laut Kinderpsychologen: Die Kinder werden konfliktunfähig, weil sie nicht mehr wissen, wie sie Probleme selbst lösen.

Thema 2: Brötchen. Da sitzen also tatsächlich Eltern in der Kita, die sich beschweren, dass ihre Kinder bei Ausflügen zu wenig Essen im Lunchpaket wiederfinden. „Und außerdem sind die Brötchen total trocken!“ – „Und bitte keine Salami, das ist für mein Kind zu salzig!“ Nicole lobt mit sanfter Stimme: „Wir versuchen, bei Ausflügen beim nächsten Mal darauf zu achten.“ Dann bietet sie an: „Sind Wiener okay?“ Die Mutter nickt erleichtert. Auch die Menge der Brötchen soll angepasst werden auf den individuellen Kindshunger.

Keine Kekse, sonst wird zu lange diskutiert

Die Väter-Quote im Kindergarten ist übrigens mit rund einem Drittel erstaunlich hoch. Manche Väter kommen auch allein, die Mehrheit sind weiterhin Mütter. Und das Klischee, dass alle Erwachsenen auf Kinderstühlen im Kreis sitzen, gilt schon lange nicht mehr. Die Wassergläser auf dem Tisch können zwar nur kindgerechte 0,1 Liter fassen, aber dafür gibt es keine Kekse. Vielleicht, weil in Kita-Blogs davor gewarnt wird, zu viel Essen bei Elternabenden anzubieten: Dann werde länger diskutiert.

Auch gibt es keine anstrengende Vorstellungsrunde. Es soll ja schon vorgekommen sein, dass geschiedene Eltern sich vor den anderen lautstark gestritten haben oder das gleiche Kind abwechselnd mit dem ersten oder dem zweiten Vornamen ansprechen. Sodass die Kinder in der Kita dann nicht wissen, wie ihr „richtiger Name“ ist. Solche Dramen werden an diesem Tag dank der freundlichen Stimme von Nicole unter Verschluss gehalten.

Dafür bricht es umso stärker im zweiten Teil der Veranstaltung auf, die Popoputz-Thematik wurde noch brav hingenommen, da geht es plötzlich um Thema 3: die Mittagsruhe. Nicole findet Worte, gegen die doch eigentlich niemand im Raum etwas haben kann: „Wir geben den Kindern einmal am Tag die Möglichkeit, die vielen Erlebnisse des Tages in Ruhe zu verarbeiten.“ Dafür werden Liegen aufgestellt, und die, die möchten, können ihre Augen schließen.

Eine Mutter unterbricht den Achtsamkeitsaufruf mit: „Und warum erzählt meine Tochter dann ganz traurig, dass ihr befohlen wurde, die Augen zu schließen.“ Nicole lächelt eisern und beschwichtigt: „Wir befehlen hier den Kindern nichts, wer möchte, darf schlafen, und damit die Kinder schlafen können, sorgen wir für Ruhe.“ Eine andere Mutter: „Wenn mein Kind Hörspiel hören will, dann soll es Hörspiel hören!“

Die Rasenmäher haben sich ineinander verhakt

Nach wenigen Minuten entsteht das, was in Kita-Blogs als Horrorvorstellung beschrieben wird. Die Eltern unterbrechen einander gegenseitig, und auch Nicole schafft es mit ihrer umarmenden Freundlichkeit plötzlich nicht mehr, die Zuhörer auf ihre Seite zu ziehen. „Mein Kind will aber schlafen!“ – „In der Schule darf es das auch nicht mehr!“ – „Ich möchte aber nicht, dass es auf dem Heimweg einschläft!“ – „Aber wenn meines Mittagsschlaf macht, kann es abends nicht einschlafen!“

Nicht die Argumente an sich sind verwunderlich, sie stimmen wahrscheinlich alle. Es ist eher die Art, in der diskutiert wird: Im Grunde wollen alle Eltern nur das Beste für die Schlafgewohnheiten ihrer Kinder. Laut Experten brauchen nur 50 Prozent der Kinder in diesem Alter noch einen Mittagsschlaf. Aber wenn selbst Experten ihre Artikel mit „Stoppt den Schlafzwang!“ überschreiben, führt das ebenso nicht zu einer besseren Streitkultur.

Die Rasenmäher haben sich in einander verhakt. Nicole gelingt es für einen Moment, ihre sanfte Stimme auf durchsetzungsfähig zu schalten, und ruft: „Das werden wir heute nicht abschließend klären können!“ Eine Mutter versucht noch, weiter für ihr Kind zu streiten, aber Nicole ist schon beim Thema Schultütenfest und Faschingskostüm. Das Streit-Thema Indianerverkleidung wird fröhlich umschifft. Zur „Tagesschau“ wollten schließlich alle längst zu Hause sein. Zum Glück gab's keine Kekse. 

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.