Berlin-Es gibt da diese schöne Geschichte: Die 2013 verstorbene, ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher soll vor ihrer politischen Karriere an der Erfindung des Softeises – oder Soft Serve, wie es im Englischen heißt – beteiligt gewesen sein. Kurz nach ihrem 1947 erfolgten Abschluss im Fach Chemie an der Universität von Oxford habe die damalige Margaret Roberts beim britischen Nahrungsmittelkonzern J. Lyons & Company gearbeitet und eine Methode mitentwickelt, Speiseeis mit Luft zu versetzen. Leider ist die Geschichte eine Mär. „Es waren nicht Thatchers Anhänger, die den Softeis-Mythos verbreiteten“, schrieb der New Yorker anlässlich des Todes der Politikerin, „es waren die Linken, die darin eine passende Metapher für ihre Politik sahen.“ Was für eine herrliche Vorstellung: Die eiserne Lady hat uns softes Eis geschenkt, indem sie es mit nichts weiter als Luft anreicherte, auf diese Weise seine Qualität senkte und damit die erzielten Gewinne steigerte.

Am 18./19. August 2021 im Blatt:
Rot-Grün-Rot hat laut Umfragen eine Mehrheit im Bundestag von 52 Prozent. Ist das ein linkes Schreckgespenst oder Rettung aus der Not?
Annalena hat wenig Chancen auf das Kanzleramt. Wird Robert Habeck in vier Jahren also der erste grüne Regierungschef? Wir haben ihn für unsere große Reportage getroffen.
Wir haben Mitleid mit Carsten Maschmeyer, dem Drückerkönig und Zentrum der Maschsee-Connection. Denn er gibt tiefe Einblicke in sein Seelenleben.
Kolumne „Berlin Brutal“: Bye-bye, urbanes Paradies: Warum die Oderberger Straße eine Zumutung ist
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Zutreffend ist allerdings, dass zumindest Berlin im eben zu Ende gehenden Sommer eine wahre Softeis-Renaissance erlebt hat. Auf breiter Ebene war das erkennbar an den regelrecht aus dem Boden sprießenden schulkindgroßen Waffeln mit, meist braun-weiß gestreifter, Haube auf den Gehwegen vor den Eisdielen von Prenzlauer Berg über Neukölln bis Schöneberg. In den angesagteren Läden der Stadt schlug sich der Trend zum cremigen Eis in Neukreationen und Neueröffnungen nieder. Die Stichworte lauten hier Büffelmilch, Molkesoße und vegane Varianten.
Der Grund dafür ist der unstillbare Appetit des Menschen auf Neues. Die Geschmackspalette in Sachen Kugeleis hatte sich in den vergangenen Jahren mit Sorten wie Aperol Spitz, Salzlakritz und Blutpfirsich-Marzipan-Riesling in immer wildere Höhen geschraubt, und die Schlangen vor den Eisläden, etwa vor der „Eispatissierie“ Hokey Poker in der Oderberger Straße, sind an warmen Abenden an die hundert Meter lang. 2021 scheint der Gipfel der Kugeleis-fanciness erreicht worden zu sein. Frei nach dem Motto: Erst wenn ihr alle möglichen und unmöglichen Geschmäcker in der Waffel hattet, werdet ihr feststellen, welche Freuden ein vermeintlich einfaches Milcheis bereithält.
Aber was ist Softeis überhaupt? Im Gegensatz zu etwa -15 Grad Celsius kaltem Kugeleis beträgt seine Temperatur ungefähr -10 bis -4 Grad. Die Geschmacksknospen auf der Zunge nehmen das wärmere Eis als cremiger wahr, es benötigt daher weniger Fett als reguläres Eis, um gehaltvoll zu schmecken: um genau zu sein, 3 Prozent. Aber nicht für alle kommt eine Milchfett-Reduktion infrage: Bei Gazzo Pizza in der Neuköllner Hobrechtstraße steht bereits seit dem vorletztem Jahr ein Softeis mit Brandenburger Büffelmilch auf der Karte, mit 7 Prozent Fett. Serviert wird es mit Bio-Olivenöl, Shortbread-Stücken und ein paar Flocken Meersalz. Unglaublich cremig, buttrig, süß, salzig und ein klein bisschen scharf – nach diesem sensationellen Dessert kann nicht mehr viel kommen.
Außer vielleicht das Café Frieda, ein Ableger des Restaurants Mrs. Robinsons, in der Lychener Straße in Prenzlauer Berg. Hier stehen derzeit zwei Softeis-Varianten auf der Karte: Zunächst eine mit Bio-Rohmilch, Molkekaramell und verbranntem Kombu, also Algen. Das Eis ist sehr cremig, das Karamell aus eingekochter Molke leicht säuerlich, das Seetangpulver verleiht dem Ganzen eine kräftig herbe Note. Aber auch Veganer (und nicht nur die) werden hier glücklich. Die Sorte aus Gurke und Verbene ist geschmacklich fast genauso beeindruckend. Sie besteht tatsächlich nur aus Gurkensaft, der durch die Softeismaschine gejagt und mit Stückchen von mexikanischen Mini-Gurken – sie sehen aus wie winzig kleine Wassermelonen – und Verbene-Pulver verfeinert wurde.
New York hat's vorgemacht
Neben seinem im besten Fall umwerfenden Geschmack hilft dem Softeis, dass es so unendlich instagrammable ist. Kaum etwas macht sich schöner im Feed als ein silbernes Metallgefäß mit Stielfuß, in das elegant hingegossene weiße Eiscreme mit einer kontrastierenden Soße arrangiert ist. So ist Softeis zeitgenössisch und nostalgisch zugleich. Wobei diese neuen, handwerklich hergestellten Varianten wenig zu tun haben mit dem McDonald’s-Bestseller McFlurry, dem Softeis der Firma LunaMil, an das sich viele aus den 90er-Jahren erinnern werden, oder mit den in der DDR beliebten und bis heute im Ostteil der Stadt und in Brandenburg angebotenen Varianten (in der Schleckmuschel!), ebenfalls reich an Stabilisatoren und Farbstoffen.
Wer das Softeis erfunden hat, darüber streiten sich die Gastro-Gelehrten bis heute. Wie so oft waren auch hier mehrere Menschen gleichzeitig einem großen Einfall auf der Spur. Der Amerikaner J.F. McCullough bot im August 1938 im Eisladen eines Freundes in Kankakee, Illinois, den Leuten seine mit Luft cremig gemachte Variante an, 1600 Menschen konnten nicht genug davon bekommen. Schon vier Jahre früher schien Tom Carvel, ein Landsmann McCulloughs mit griechischen Wurzeln, in Hartsdale im Staate New York auf die Idee gekommen zu sein, wegen kaputter Kühlung halb geschmolzenes Kugeleis aus seinem Lieferwagen heraus zu verkaufen. 1936 eröffnete Carvel seine erste Softeisdiele.
In New York City, wo Ice-cream-Trucks der Marke Mister Softee seit Jahrzehnten zum Stadtbild gehören, konnte man Softeis schon vor mehr als zehn Jahren auch in der gehobenen Gastronomie essen. Etwa in den Momofuku-Restaurants, in denen die Dessert-Chefin und „Chef’s Table“-Protagonistin Christina Tosi uramerikanische Varianten mit Erdnussbutter oder Popcorn, Erdnüssen und Melasse zubereitete. Eigentlich komisch, dass es so lange gedauert hat, bis diese neuen, Aufsehen erregenden Softeissorten den Atlantik überquert haben.
Das dachte sich auch der Ur-Berliner Philipp Gervink. Der gelernte Hotelfachmann entdeckte Softeis auf einer USA-Reise, zurück in Berlin eröffnete er im April dieses Jahres seine Eisdiele Sweet Sins im Kreuzberger Graefekiez. Während man drei Kilometer weiter nordöstlich im Restaurant Neue Republik Rieger in der Bouchéstraße ausschließlich veganes Softeis serviert, gibt es hier jeden Tag vier Sorten, zwei davon vegan. Sie schmecken etwa nach Cornflakes-Milch, Erdbeer oder Ananas. Dazu gibt es Kinderklassiker-Toppings wie Fruit-Loops, Koala-Bären und Ahoi-Brause. Das Vanille-Milcheis schmeckt beim Testessen klassisch verlässlich und wird in der hausgebackenen Waffel leicht übertrumpft von der veganen Schokoladen-Variante. Sie erinnert an Mousse au Chocolat, mit Butterstreuseln und Karamellsoße wird daraus ein vollendetes Vergnügen. „Viele unsere Kunden kommen herein und sagen, sie hätten lange schon kein Softeis mehr gegessen“, sagt Susanne, Philipp Gervinks Mutter. Sie steht wegen des durchschlagenden Erfolgs der Eisdiele jetzt mit im Laden. Und Oma Brigitte macht die Streusel. Der Sommer 2021 mag vorbei sein. Softeis aber kommt, das ist fast sicher, im nächsten Jahr wieder. Auf noch breiterer Front.
