In Berlin herrscht große Aufregung: Der Wirecard-Skandal, bei dem Tausende Anleger um ihre Ersparnisse gebracht wurden, könnte Bundeskanzler Olaf Scholz nun doch noch zum Verhängnis werden. Bisher hatte sich Scholz bei Wirecard wie beim Hamburger Warburg-Skandal erfolgreich hinter einer Mauer von Gedächtnislücken versteckt. Kein noch so mutiger Untersuchungsausschuss konnte dem früheren Bundesfinanzminister und Hamburger Bürgermeister etwas anhaben.
Ein Bericht der angesehenen italienischen Tageszeitung La Repubblica hat nun vor allem die SPD-Anhänger aufgescheucht: Scholz könne bereits 2024 als Bundeskanzler abgelöst und durch den in Umfragen beliebten Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius ersetzt werden. Die Zeitung schreibt, es gäbe „Gerüchte, dass der Fall Wirecard und seine Beziehungen zum russischen Spion Jan Marsalek dem sozialdemokratischen Anführer den finalen Schlag versetzen könnten“. Im Raum steht der Verdacht, dass Scholz von Russlands Präsident Wladimir Putin kontrolliert wird. Die „Schatten Russlands“ liegen über Scholz, so die Zeitung. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung fragt: „Ist Scholz erpressbar, weil Putin durch Marsalek über brisante Wirecard-Informationen verfügt?“
Das Szenario wirkt bedrohlich, weil unter anderem das Wall Street Journal den früheren Wirecard-Vorstand Jan Marsalek als russischen Spion geoutet hatte. Marsalek solle Informationen von ehemaligen Wirecard-Kunden an Moskau weitergegeben haben. Der frühere Linken-Politiker und unbestechliche Chefaufklärer im Wirecard-Skandal, Fabio de Masi, warnt jedoch vor zu schnellen Schlüssen. De Masi sagte der Berliner Zeitung: „Wirecard war eine nachrichtendienstliche Auseinandersetzung. Marsalek hatte zu westlichen und östlichen Nachrichtendiensten Kontakt. Seine genaue Rolle ist noch sehr unklar. Viele der Veröffentlichungen dazu stecken voller Widersprüche und scheinen mir von Sicherheitsbehörden beeinflusst.“
Es sei zwar denkbar, dass Marsalek „im russischen Einflussbereich ist“. Gesicherte Erkenntnisse gibt es jedoch nicht. De Masi: „Das Wall Street Journal behauptet, er habe über eine Firma verdeckte Spionageoperationen finanziert. Doch diese Firma wurde 2021 nach seiner Flucht unter seinem Namen angemeldet. Das ist etwas auffällig für eine verdeckte Operation, er war da ja schon offiziell von Interpol gesucht. Da kann er auch gleich nackt am helllichten Tag auf den Big Ben steigen. Das überzeugt mich nicht!“ (hier De Masis umfassende Dokumentation des Skandals)
Die Idee einer möglichen Russland-Tätigkeit Marsaleks irritiert jedenfalls die deutschen Geheimdienste: Der im Auftrag des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses eingesetzte Sonderermittler Wolfgang Wieland hatte bereits im April 2021 herausgefunden, dass das Bundeskriminalamt bei mehreren Projekten mit Wirecard zusammengearbeitet hatte. Demnach seien Kreditkarten der Wirecard-Bank genutzt worden, um undercover im Netz Leute auszuforschen. Laut dem Bericht des Ermittlers soll Marsalek „einen kompletten Jahresdatensatz der Wirecard-Geschäftspartner zur Weiterleitung an den BND angefordert und erhalten haben“. Allerdings sei dieser Datensatz nie dort angekommen. Wo die Daten hingegangen sind, ist bis heute unklar.
Die Berlin-Korrespondentin der Repubblica, Tonia Mastrobuoni, sagte der Berliner Zeitung, sie habe sich in ihrer Zuordnung Marsaleks zum russischen Geheimdienst auf andere Medien wie etwa das Wall Street Journal oder die britische Website Bellingcat bezogen. Es gäbe „starke Indizien, dass Marsalek für Russland gearbeitet hat“. Sie sei auf das Thema jedoch gar nicht von sich aus gekommen. Mastrobuoni: „Ich wurde überraschend von einer Quelle angesprochen. Die Quelle sagte, die Fortsetzung des Wirecard-Prozesses im Jahr 2024 für Scholz könne brenzlig werden, wenn das Finanzministerium unter seiner Führung mit Marsalek mehr zu tun hatte als bisher bekannt. Zwei weitere Quellen haben mir diese Einschätzung bestätigt.“ Das klingt eher nach einer SPD-internen Intrige als nach dem langen Arm Moskaus: Im mächtigen Seeheimer Kreis der SPD gibt es lange schon große Sympathien für Pistorius. Die Umfragewerte für Scholz sind desaströs, in Sachsen kämpft die SPD gar ums Überleben. Es ist durchaus denkbar, dass panische SPD-Granden Wirecard als Vorwand verwenden wollen, um Scholz loszuwerden.


