Berlin-Es war ein bewegtes Jahr. Auch für Daniel-Jan Girl (40). Der neue Präsident der Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK) ist sein Amt in unruhigen Zeiten angetreten. Corona setzt Teilen der Berliner Wirtschaft weiter schwer zu. Immerhin: Girl ist froh darüber, dass mit Stephan Schwarz ein Unternehmer zum neuen Wirtschaftssenator berufen wurde. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung sagt Girl, wie es der hauptstädtischen Wirtschaft in diesem zweiten Pandemiewinter geht, warum die plötzlichen Rückzahlungsforderungen von Corona-Hilfen viele Unternehmen überfordern – und welchen Beitrag die Wirtschaft zur Lösung der Probleme Berlins leisten kann.

Herr Girl, wie geht der Berliner Wirtschaft am Ende dieses zweiten Pandemiejahres?
Der Wirtschaft geht es nicht anders als der Gesellschaft: Die Enttäuschung ist groß, dass die Pandemie noch nicht besiegt ist und die Omikron-Variante uns mit Sorge in die Zukunft blicken lässt. Berlin steht aber trotz allem gut da. Das ist auch eine Leistung der Berliner Wirtschaft. In den Betrieben wurde eigenverantwortlich getestet und geimpft und nicht auf die Politik gewartet. Im Großen und Ganzen sind wir froh, dass der Laden noch läuft. Es gibt allerdings große Unterschiede zwischen den Branchen: Während IT- und Pharmakonzerne teils von den Entwicklungen profitiert haben, haben sich Gastronomie, Tourismus oder die Veranstaltungswirtschaft noch längst nicht von den Einschränkungen erholt. Da ist die Lage noch immer katastrophal.
Die Corona-Zahlen sind hoch, es droht eine fünfte Virus-Welle. Wie groß ist die Sorge, dass Omikron die Erholung der Wirtschaft ausbremst?
Natürlich ist die Sorge groß, dass es einen weiteren Lockdown geben könnte. Es muss wirklich alles getan werden, um das zu verhindern. Das schaffen wir nur gemeinsam, indem wir uns verantwortungsvoll an die geltenden Regeln halten. Und je mehr Menschen geimpft sind, desto weniger Chancen hat das Virus.
Teile der Wirtschaft befinden sich momentan in einer paradoxen Situation. Die Auftragsbücher sind voll, doch wegen Lieferproblemen und Materialmangel können die Unternehmen die Produktion nicht hochfahren. Wie ist die Lage bei den Berliner Firmen?
Gerade bei Betrieben, die auf Importe und Exporte angewiesen sind, gibt es erhebliche Lieferverzögerungen, Mehrkosten und Planungsunsicherheit. Die Containerpreise für den weltweiten Warenverkehr auf dem Seeweg sind förmlich explodiert. Die Herausforderungen in der Planung sind enorm, da die Warenwirtschaftsströme durch Omikron erneut massiv gestört sind. Wenn beispielsweise China oder die Niederlande einen großen Hafen schließen, trifft das mit Verzögerung auch Berlin in einem Maß, das schwer abzuschätzen ist.
Gibt es Branchen, die von den Lieferproblemen besonders betroffen sind?
Das Problem zieht sich durch die gesamte Lieferkette und lässt sich nicht mehr auf einzelne Branchen eingrenzen. Denn sowohl komplexe Produkte wie Halbleiter sind inzwischen ähnlich knapp wie scheinbar einfache Rohstoffe, zum Beispiel Holz. Man kann allerdings sagen, dass große Abnehmer, wie Konzerne, häufig durch ihre Marktstellung gegenüber kleineren Betrieben im Vorteil sind. Das ist für die auf kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) basierte Berliner Wirtschaft ein Risiko. Aber auch darin steckt eine Chance, denn es erhöht sich der Produktivitätsdruck und die Rentabilität von Recycling-Prozessen. Gerade bei Letzterem hat Berlin mit seiner hohen Innovationskraft und exzellenten Forschungseinrichtungen eine Chance, das Thema Nachhaltigkeit mit Wirtschaftswachstum zu verbinden.
In ganz Deutschland hört man von überraschenden Rückzahlungsforderungen von Corona-Hilfen an Unternehmen. Wie bewerten Sie diese Situation?
Es ist selbstverständlich, dass Hilfen, für die es keine Antragsberechtigung gab, zurückgezahlt werden müssen. Uns ist es wichtig, dass diese Rückzahlungsmodalitäten so gestaltet werden, dass diese Unternehmen nicht flächendeckend in die Zahlungsunfähigkeit getrieben werden. Das betrifft vor allem die Unternehmen in den besonders betroffenen Branchen des Handels, des Tourismus und der Veranstaltungswirtschaft. Die Bundesregierung sollte daher dringend die Rückzahlungsmodalitäten prüfen.
Für den neuen Berliner Senat haben Sie gefordert, dass das Motto „Wirtschaft first“ gelten müsse. Sehen Sie das im Koalitionsvertrag verankert?
Wir wollten mit diesem Anspruch deutlich machen, dass die Wirtschaft immer mindestens Teil der Lösung sein sollte – und nicht außen vor bleiben darf. Ich denke, dass die Politik in Berlin in der Vergangenheit zu wenig Vertrauen in die Wirtschaft hatte. Es fehlte der Glaube, dass man Probleme gemeinsam lösen kann. Ich habe die Hoffnung, dass mit der neuen Regierenden Bürgermeisterin und auch mit dem neuen Wirtschaftssenator eine andere, neue Sicht auf die wirtschaftlichen Probleme und Perspektiven Berlins Einzug in den Senat hält. Wir können ein Leuchtturm der Nachhaltigkeit werden: Wenn es Berlin gelingt, hier Best-Practice-Beispiele zu schaffen, generieren wir nicht nur Wertschöpfung am Standort, sondern wir haben gemeinsam die Chance, eine nachhaltigere Welt von Berlin aus mitzugestalten.
Sie haben gerade den neuen Wirtschaftssenator angesprochen, einen Mann aus der Wirtschaft. Was erwarten Sie von Stephan Schwarz?
Er war Präsident der Handwerkskammer und Vizepräsident der IHK. Wenn jemand die Branchenvielfalt kennt, die Berlin auszeichnet, dann Stephan Schwarz. Die Berliner Wirtschaft ist keine Monokultur. Wir sind besonders divers aufgestellt – ein klarer Standortvorteil, weil unsere Wirtschaft dadurch resilienter als an anderen Standorten ist. Stephan Schwarz ist auch Unternehmer – und wir als Unternehmer sind lösungsorientiert. Es ist unser Geschäft, Probleme zu lösen. Das wollen wir gemeinsam mit der Politik tun und ich habe bei Stephan Schwarz und Franziska Giffey das Gefühl, dass wir es gemeinsam hinbekommen.
Aus der Wirtschaft hat man immer wieder Murren über den ersten rot-rot-grünen Senat gehört. Was muss aus Ihrer Sicht bei der Neuauflage dieses Bündnisses besser werden?
Die Politik muss zur Erkenntnis kommen, dass wir Teil der Lösung sind. Dass wir die nötigen Freiheiten bekommen und uns nicht immer neue Auflagen und Vorgaben vor die Nase gesetzt werden. Wir müssen dringend anfangen, die großen Probleme dieser Stadt anzugehen: Da sind einerseits die Themen Stadtgestaltung, pragmatische Stadtentwicklung und Wohnungsbau. Ich bin zuversichtlich, dass wir bald zu einem bedarfsgerechten Wohnungsbau kommen – dass für alle Gesellschaftsschichten gebaut wird, also sowohl günstig als auch höherpreisig. Das zweite große Thema ist digitale Verwaltung. Das alles müssen wir wie bei einem Mikado-Spiel lösen: Die wichtigsten und am leichtesten erreichbaren Punkte zuerst angehen und dann Schritt für Schritt abschichten, ohne uns in den anderen Problemen zu verfangen. Unternehmen haben im Schnitt mehr als 100 Behördenkontakte im Jahr, da ist es doch sinnvoll, die häufigsten nachgefragten Dienstleistungen der Verwaltung als Erstes zu digitalisieren. Das entlastet die Unternehmen und die Ämter.
Wirtschaftsforscher prognostizieren, dass die deutsche Wirtschaft ab Sommer 2022 vor einem kräftigen Aufschwung steht. Welche Impulse dazu kann die Politik auf Landesebene geben?
Berlin ist Deutschlands einzige Weltmetropole und geht seine Herausforderungen zugleich häufig provinziell an. Wir reden hier so lange über öffentliches WLAN, bis es keiner mehr braucht, weil alle über ihr mobiles Datennetz weltweit unterwegs sind. Wir sehen den Verschleiß der Infrastruktur und wundern uns dann, wenn Brücken nicht mehr befahrbar sind. Und wir freuen uns über die internationale Strahlkraft der Stadt, aber uns fällt nichts Besseres ein, als Touristen mit einem ÖPNV-Ticket zwangszubeglücken. Berlin muss jetzt zügig seine Probleme mit Expertise aus der Wirtschaft lösen, um dem Anspruch an eine Weltmetropole wieder gerecht zu werden. Dann muss sich die Stadt international ausrichten und durch Nachhaltigkeit, die zukünftig alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche durchdringen wird, eine Strahlkraft entwickeln und Leuchtturm sein.
Mit Zalando und Hello Fresh sind dieses Jahr gleich zwei in Berlin gegründete Firmen in den Dax aufgestiegen. Kann es Berlin als Wirtschaftsstandort langsam mit Schwergewichten wie München, Frankfurt und Hamburg aufnehmen?
Ich würde sagen: Wir haben die Chance dazu und müssen sie nutzen. Die Stadt hat bewiesen, dass Unternehmen hier auch groß gemacht werden können, auch auf internationaler Ebene. Dass sie auch verkauft werden und an die Börse gehen können. Das Grundvertrauen, das in den letzten Jahren aufgebaut wurde, kann man und muss man jetzt nutzen. Ich würde mich freuen, wenn wir das mit einem Fokus auf eine nachhaltige Zukunft machen. Berlin hat als Finanzinnovationsstandort eine große Chance, weltweit für Furore zu sorgen, vor allem durch die digitalen Unternehmen, auf die wir mit Stolz schauen.
Welche Pläne verfolgen Sie 2022 an der Spitze der IHK?
Ein zentrales Thema ist für mich: Mehr Vielfalt! Und damit meine ich nicht allein die Branchenvielfalt. Wir wollen mehr Unternehmerinnen für uns gewinnen und auch die Migrationsvielfalt in der Berliner Wirtschaft besser widerspiegeln, also beispielsweise die arabische, die türkische oder die vietnamesische Community. Sie alle sind elementarer Bestandteil der Berliner Wirtschaft und ich wünsche mir eine IHK, die diese Vielfalt repräsentiert – auch gegenüber der Politik. Im nächsten Jahr wählen wir das „Parlament der Wirtschaft“, die Vollversammlung der IHK Berlin. Ich hoffe, dass viele engagierte Unternehmerinnen und Unternehmer dafür kandidieren – und wir gemeinsam unsere Position gegenüber Politik und Verwaltung einbringen.
Zum Schluss wollen wir einen Ausblick wagen: Was erwarten Sie, wo die Berliner Wirtschaft am Ende des nächsten Jahres steht?
