Berlin-Es ist nicht lange her, da schien die Gorillas-Welt noch in Ordnung. Erst im März sammelte das aufstrebende Lieferdienst-Start-up in einer Finanzierungsrunde weitere 245 Millionen Euro ein. Das Berliner Unternehmen – zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 gegründet – kommt bereits auf eine Bewertung von mehr als eine Milliarde Dollar. Damit zählt es in der Start-up-Welt als sogenanntes Einhorn. Innerhalb eines Jahres hat Gorillas den Sprung geschafft. Eine unglaubliche Wachstumsgeschichte.
Doch das Image des Erfolgsunternehmens hat erste Risse bekommen. Und dafür sorgen nicht etwa die Politik mit neuen Vorgaben zur Regulierung oder die Konkurrenz. Nein, es sind die eigenen Beschäftigten, die den Aufstand proben. Nach der fristlosen Entlassung eines Gorillas-Fahrers ist der Streit eskaliert. Die Beschäftigten werfen dem Unternehmen Willkür, Ausbeutung und Missachtung von Arbeitnehmerrechten vor. Der Streit schwelt schon länger, doch der Rauswurf – offiziell wegen einer Verspätung von etwa 40 Minuten – brachte das Fass zum Überlaufen.
Gorillas-CEO wendet sich an seine Mitarbeiter
Per Videokonferenz versuchte Gorillas-CEO Kağan Sümer noch am Freitag die Wogen zu glätten. Die Berliner Zeitung konnte an dem Meeting teilnehmen. Rund 15 Minuten sprach Sümer auf Englisch zu seinen Beschäftigten. Die Proteste hätten ihn überrascht. Es sei ihm wichtig, dass die Mitarbeiter stolz auf ihr Unternehmen sein können. „Bei Gorillas geht es ums Fahrradfahren, nicht um Politik“, dozierte Sümer in die Kamera.
Zum eigentlichen Auslöser der Proteste – der Kündigung des Fahrers Santiago – sagte er nur, dass mehrmaliges Fehlverhalten der Grund für den Rauswurf gewesen sei. Die Eskalation sei danach von außen ins Unternehmen getragen worden. Sümer versprach, die Mitarbeiter schon bald per Fahrrad an den verschiedenen Standorten zu besuchen und mit ihnen in den Dialog zu treten. In der aufgebrachten Lage schienen die Worte des CEOs allerdings zu verpuffen. Noch am Abend fanden weitere Protestaktionen statt. Seit Mittwoch kommt es immer wieder zu wilden Streiks, also unangekündigten Arbeitsniederlegungen, bei denen Mitarbeiter die Warenlager des Unternehmens blockieren.
Die Eskalation trifft Gorillas zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Wie das Handelsblatt berichtet, haben mehrere Top-Manager das Unternehmen in den vergangenen Monaten verlassen. Gorillas ist außerdem dabei, frisches Geld bei Investoren einzusammeln. Von einer zwei- bis viermal so hohen Summe wie zuletzt ist die Rede. Dabei wirbt Gründer Sümer auch mit der Gemeinschaft bei Gorillas. Der CEO zeichnet gerne das Bild einer verschworenen Truppe.
Von „digitaler Sklaverei“ spricht hingegen die SPD-Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe aus Friedrichshain-Kreuzberg. Schon länger befasst sie sich mit den Arbeitsbedingungen in der Branche. Kiziltepe wirft Unternehmen wie Gorillas vor, Wachstum auf dem Rücken der Beschäftigten zu erzwingen. Gorillas wisse über die App, über die auch der Bestellvorgang abgewickelt wird, immer, wo sich ein Fahrer gerade befindet. Das baue Druck auf, um die Beschäftigten zu drillen. „Dass einem Mitarbeiter wegen einer einmaligen Verspätung gekündigt wird, ist rechtlich zwar möglich, wirft aber kein gutes Licht auf das Unternehmen“, sagte Kiziltepe der Berliner Zeitung. Die SPD-Politikerin hat einen Brief an Gorillas-CEO Sümer geschrieben. Darin fordert sie ihn auf, die Kündigung des Fahrers zurückzunehmen – und die Regeln der betrieblichen Mitbestimmung zu akzeptieren.
Hat Gorillas versucht, eine Betriebsratswahl zu verhindern?
Kiziltepe spielt damit auf die Vorgeschichte der Eskalation bei Gorillas an. Um einen Betriebsrat zu gründen, haben die Beschäftigten Anfang Juni zunächst einen Wahlvorstand gewählt. Diese Hürde sieht das Gesetz vor. Doch das Management will die Wahl gerichtlich überprüfen lassen. Nicht alle Angestellten, so die Begründung, konnten an der Abstimmung gleichberechtigt teilnehmen. Die Mitarbeiter, die sich im „Gorillas Workers Collective“ organisiert haben, halten dieses Argument für vorgeschoben. Sie verweisen auf Verhinderungsversuche des Unternehmens – und das per se problematische Geschäftsmodell von Gorillas.
„Faster than you“, schneller als du, lautet das Werbeversprechen des Lieferdienstes. Kunden bestellen online und innerhalb von zehn Minuten wird die Ware geliefert. Dafür hat Gorillas in der ganzen Stadt ein Netz aus dezentralen Lagern aufgebaut. Die Kuriere flitzen zwischen Kunde und Lager hin und her. Gorillas zahlt seinen „Ridern“ – so werden die Fahrer genannt – dafür einen Stundenlohn von 10,50 Euro. Um das Wachstum zu befeuern, setzt der Lieferdienst auf Expansion: Neben Berlin gibt es Gorillas mittlerweile in 17 deutschen Städten und vier weiteren europäischen Ländern.
Der Markt der Lebensmittel-Lieferdienste ist hart umkämpft. Traditionelle Supermarktketten wie Edeka und Rewe sind dabei, aber auch andere Start-ups wie Flink, die ebenfalls eine Lieferung in zehn Minuten versprechen. Bald soll es sogar noch schneller gehen: Der Berliner Dax-Konzern Delivery Hero hat angekündigt, unter der Marke Foodpanda ins Geschäft der Kuriere einzusteigen. Und die Ware innerhalb von sieben Minuten zum Kunden zu bringen.
Gewerkschafterin kritisiert Gorillas
Maren Ulbrich nennt das einen „Vernichtungs- und Verdrängungswettbewerb“. Die Handelsexpertin der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi berichtet im Online-Lebensmittelhandel von einer Reihe von Start-ups, die in den vergangenen eineinhalb Jahren „aus dem Boden gestampft“ seien – und die bisher von Risikokapitalgebern finanziert werden. „Sie sind voll auf Expansion und Gewinnerzielung ausgerichtet“, sagte Ulbrich der Berliner Zeitung. Das passiere zulasten der Beschäftigten. Die Arbeit sei geprägt von enormer Belastung, Überstunden und Fremdsteuerung. Sogar die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers werde auf die Mitarbeiter abgewälzt. Für die Verkehrssicherheit der Fahrräder hätten sie selbst zu sorgen. „Diese Unternehmen haben keine Kultur im Umgang mit Arbeitnehmerrechten“, sagt Ulbrich.
Schlechte Arbeitsbedingungen? Davon zumindest wollte Gorillas-CEO Kağan Sümer in der Videokonferenz am Freitag nichts wissen. Er verwies darauf, dass seine Mitarbeiter Gorillas mit „8,6 von 10 happiness points“ bewerten würden. Natürlich laufe nicht alles rund. Für Proteste aber gebe es keinen Grund. In Richtung seiner streikenden Rider sagte Sümer: „Wenn ihr etwas ändern wollt, dann kommuniziert!“ Man kann das als Angebot verstehen. Oder als Drohung.



