Serienauftakt „Re-Existenzia“

Kein Gott. Kein Staat. Kein Geld.

Die wesentliche Währung an den Märkten unserer Zeit ist nicht Kapital, sondern: Vertrauen. Welche Gesellschaft entsteht daraus? Eine Geistesgeschichte.

Michelangelo beschrieb mit seiner Kunst in der Renaissance neue (alte: antike) Realitäten.
Michelangelo beschrieb mit seiner Kunst in der Renaissance neue (alte: antike) Realitäten.
Wikimedia Commons

„Die herren machen das selber, daß in der arme man feyndt wird. Dye ursach des auffrurß wöllen sye nit wegthun, wie kann es die lenge gut werden?“ Das schreibt inmitten des Deutschen Bauernkriegs 1524 der Theologe und Reformator Thomas Müntzer. Die „Hochverursachten Schutzrede“ Müntzers ist Zeugnis jener gesellschaftlichen Konflikte, die an der Zeitenwende zwischen Mittelalter und Neuzeit in eine lange Reihe europäischer Aufstände münden und sich gegen die ökonomischen Privilegien der Kaufleute, des Adels und des Klerus formieren.

Die Renaissance beschreiben Wirtschaftshistoriker als ökonomische Konsolidierung zu einer – wie Jacques Le Goff formuliert – „geschlossenen Gesellschaft“ weniger Vermögender. Die Grundlagen dafür werden ab dem 11. Jahrhundert in der renaissance commercial  (Kommerzielle Revolution) gelegt: Das wachsende ökonomische Potenzial Handelstreibender wie etwa der Medici in Italien begründet deren Aufstieg im Sozialgefüge des späten Mittelalters zum Vermögenden-Geschlecht neben Adel und Klerus. Schaffen es hier die Kaufleute, sich ob ihres Reichtums von den Fesseln der Göttlichen Ordnung zu lösen, bleibt deren gesellschaftlicher Überbau – der Feudalismus – für den Großteil der Bevölkerung als Vasallen ihrer Lehnsherren bis zum Zeitalter der Aufklärung bestehen.

„Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat“ skandieren rund 500 Jahre nach dem Bauernkrieg Antifa-Mitglieder im Pandemiejahr 2020 auf Twitter. Ein Jahr, in dem die Krise als Symptom unseres Zeitgeschehens zum Dauerzustand avanciert ist. Ein Jahr, in dem von Institutionen, die unserer Gesellschaft einmal zur Orientierung dienten, keine Sicherheit mehr ausgeht, wie einige Beobachter meinen. Ein Jahr, in dem in dieser Weltsicht die Wissenschaft von Politik und Wirtschaft nur noch als prärogative Instanz begriffen wird, die Bevölkerung zum „richtigen“ Verhalten zu bewegen.

Corona wütet derweil wie ein metaphysisches Blitzlicht innerhalb unserer Gegenwart, das die Schlagschatten unserer Gesellschaft beleuchtet und gleichsam deren Transformation lostritt. Es ist der Kapitalismus, der vom Kopf her stinkt, meinen inzwischen nicht nur ehemalige Hausbesetzer. Als Allgemeinverdachtsplätze wider die Sittlichkeit werden regelmäßig das Privatvermögen des Amazon-Gründers Jeff Bezos besprochen, Steuerhinterziehung à la Cum-Ex, der Wirecard-Betrug, die nach Suchtpotenzialen programmierten Cashcow-Algorithmen der Sozialen Medien oder Energiepolitiken, die entgegen allen Erkenntnissen der Klimaforschung beschlossen werden. All das stinkt wie die Tierleichenberge des Fleischproduzenten Tönnies zum Himmel.

Die Skepsis gegenüber dem Kapitalismus keimt dabei bereits eine ganze Weile in den Köpfen der Kritiker. Spätestens aber seit der Finanzkrise 2008 ist ihnen klar: Der Kapitalismus hat unsere Gesellschaft wie eine Krankheit befallen. So schreibt etwa der Kulturwissenschaftler Byung Chul Han in seinem Essayband „Kapitalismus und Todestrieb“ von der aktuellen Phase des Kapitalismus als einer der Totalausbeutung des Individuums: „Was wir heute Wachstum nennen, ist in Wahrheit ein karzinomatöses Wuchern. Wir erleben gegenwärtig einen Produktions- und Wachstumsrausch, der wie ein Todesrausch anmutet.“ Auf die Kontrollgesellschaft früherer Epochen, in der das Individuum fremdbestimmt ausgebeutet worden sei (Feudalismus, Kolonialismus, usw.), schreibt Han, folge als Symptom des Spätkapitalismus die Effizienzlogik der Leistungsgesellschaft. Nach dieser Logik beute sich das Individuum nun selbst aus, ohne dazu von anderen gezwungen zu werden: Die Selbstausbeutung sei dabei effizienter als die Fremdausbeutung, weil sie vom Gefühl der Freiheit ausginge.

Identität von Waren- und Denkform

„Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus“ – dieser Satz geht wiederum auf den Kulturwissenschaftler Fredric Jameson zurück. Dafür aber ließen sich – abseits der apologetischen Apokalypse-Logik dieses Gedankens – gute Gründe anführen. Etwa: Die Welt, wie wir sie denken und begreifen, existiert erst, seitdem es Geld gibt.

Der Vater dieses Gedankens ist der Nationalökonom und Sozialphilosoph Alfred Sohn-Rethel, dessen Arbeit auf die Synthesisleistung von Geld rekurriert. Geld steht dabei synonym für das Ergebnis einer Begegnung unter Tauschenden. Geld schafft als Vermittler zwischen (tauschenden) Fremden einen Raum, sich friedlich und rational zu begegnen und ist insofern neben Vehikeln wie unserer Sprache ein Weg, die Grenzen zur Gemeinsamkeit zwischen ehemals Fremden zu überwinden.

Auf Sohn-Rethels Überlegungen beruht weiter, über was auch Michel Foucault nachgedacht hat: Der Tausch fundiert unsere Identität. Das eigene Ich existiert nur, weil es unmöglich ist, Gewissheit über eine Realität außerhalb des eigenen Bewusstseins zu erlangen. „Immer gehört zur Identität die Alterität“, heißt es auch beim Sprachwissenschaftler Andreas Gardt. Erst im Blick der anderen und in unserem Bewusstsein von der Existenz dieses Blickes würden wir zu dem, was wir sind.

Der Tausch begründet im Umkehrschluss die Grundlage für die Entstehung von Gesellschaft, nämlich das Gemeinsame, wie der Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch in seinem Essay „Identitätszwang und Tauschabstraktion“ ableitet: Erst die sich dank unbewusster Gewalt durchsetzende Tauschabstraktion, „die die Tauschenden [...] nach einer ‚mein, nicht dein’-Logik denken lässt“, stifte nämlich die Einheitsprinzipien, die es erlaubten, sinnvoll von Gesellschaftlichkeit reden zu können. Was ego gehöre, so Hörisch, gehöre nicht alter – aber eben dies hätten ego und alter gemeinsam. In Sohn-Rethels Ansatz löse sich insofern ein klassisches Problem der Transzendentalphilosophien auf: wie von Subjektivität zu Intersubjektivität zu gelangen sei. „Ist doch der Tausch a priori intersubjektiv“, schließt Hörisch.

Der Wechselbrief als soziales Vehikel im Mittelalter

Während Sohn-Rethel die Urszene der Abstraktion ins Jahr 680 v. Chr. in Ionien verortet (erste Münzprägung), beschreiben Wirtschaftshistoriker wie Jacques Le Goff die Kommerzielle Revolution ab dem 11. Jahrhundert n. Chr. als wesentlichen Treiber unseres modernen Geldsystems, aber auch unserer im Westen säkular organisierten Gesellschaft.

Eine kleine Kollapsologie

Von Katharina Brienne

05.02.2021

Münzen sind in dieser Zeit knapp. Handelsvolumina übersteigen Edelmetallkontingente. In Italien kommt deshalb der sogenannte Wechselbrief das erste Mal zum Einsatz. Jener dient den Handelstreibenden ab dem Späten Mittelalter als Zahlungs- und Überweisungsmittel für Geldtransfers zwischen Handelsplätzen, an denen unterschiedliche Währungen gebraucht werden. Der Wechsel ist ein Wertpapier. Mit ihm lassen sich Werte mit den Mitteln der Buchhaltung von einem Ort zum anderen transferieren. Der Wechsel dient den Kaufleuten vor allem aber auch als Instrument, das Wucherverbot der Kirche zu umgehen.

Die Kirche verurteilt im Späten Mittelalter jede Form von Geldverleih gegen Zinsen als Wucher „wider die Natur“. An der Seite von Sodomiten und Gotteslästerern sollen Wucherer im siebten Kreis der Hölle schmoren. Der Wechselbrief ist als Handelsinstrument wiederum so komplex angelegt, dass er für die Kirche kaum zu verstehen ist: Er sei eine „höchst subtile Tätigkeit, die Theologen unmöglich verstehen können“, schreibt der Kaufmann Benedetto Cotrugli im Jahr 1458. Inmitten der Realitäten des mittelalterlichen Handels begründet der Wechselbrief insofern eine Sphäre, in der die Ziele und Motive der Akteure in der Schwebe bleiben. Damit werden den Handelnden Tauschgeschäfte ganz neuer Art in größeren Volumina und auch über die Grenzen der noch im Frühen Mittelalter geschlossenen Wirtschaftskreise hinaus möglich.

Auf der Basis ihres daraus entstehenden Reichtums schmilzt unterdessen nicht nur die Trennschärfe zwischen Geld und Gottesdienern, wie der Autor Timothy Parks in „Medici Money“ am Beispiel der Kunst dieser Zeit herausstellt. Die Kaufleute wenden sich in der Erziehung ihres Nachwuchses auch humanistischen Idealen zu: Die Renaissance als Wiedergeburt antiker Ideen falle in die Zeit wachsender Kapitalverkehre, so Parks. Die Auseinandersetzung mit der Antike läutet schließlich die sukzessive Emanzipation von den strengen Werten des Christentums ein. Die Kaufleute brechen Kraft ihrer Bildung (auf Grundlage ihres Vermögens) mit der sozialen Hierarchie und dem Geburtsrecht als deren Ordnungsprinzip.

Desorientierung in der Stereo-Realität

„Man ist sich nicht bewusst, wie sehr [...] die Stadt, die Politik, die Ökonomie der mittelalterlichen Welt durch die Erfindung der Perspektive [durch die z.B. von den Medici finanzierten Künstler] erschüttert wurde“, heißt es beim Philosophen Paul Virilio in einem Essay über die virtuelle Globalisierung, den er im Geburtsjahr des Internet Explorers 1995 geschrieben hat. Der Cyberspace sei wiederum eine neue Form von Perspektive: eine der Echtzeit, in der sich das Reale kaum noch vom Virtuellen unterscheiden ließe. „Wir bewegen uns“, so Virilio, „auf eine Verdopplung der sinnlichen Realität zu, auf eine Art Stereo-Realität.“ Das Sein verliere seine Bezugspunkte. Das konfrontiere uns mit einem neuen Phänomen: Desorientierung.

Zu dieser Losung der Cyber-Gegenwart, die Virilio vor 25 Jahren formuliert hat, passt wiederum, was der Sozialwissenschaftler Aaron Sahr in seinen Arbeiten herausstellt: Geld ist ein Artefakt. Es sei weder einfach da, noch wachse es auf Bäumen. Und weiter: Das universelle Zahlungsmittel Geld existiere (heute) alleine in Form von Bankschulden (und insofern digital). Schulden in diesem Sinne sind nach Sahr kodifizierte, also innerhalb eines vertraglichen Rahmens aufgeschriebene Zahlen, die einen zu zahlenden Betrag in Aussicht stellen. Daraus folgt: Werte lassen sich mit den Mitteln der Buchhaltung erschaffen und erzielen. Banken könnten heute zahlen, ohne zu besitzen.

In aller Konsequenz gedacht ist der Wechselbrief, wie er im mittelalterlichen Italien entstanden ist, Vorläufer dieser Entwicklung. Mit ihm begründet sich die moderne Buchhaltung, die mit ihrer Gewinn- und Verlustrechnung überhaupt erst ermöglicht, Werte ohne Transfermedien wie Gold zwischen Handelsplätzen zu übertragen. Als Spekulationsobjekt auf Währungsschwankungen war der Wechsel darüber hinaus aber auch Vorbote jener hybriden Finanzprodukte, die in der Finanzkrise 2008 Lehman Brothers zum Sturz gebracht haben.

Wahrscheinlichkeitsmathematik als Anfang vom Anfang

Unter Kritikern der „ultralockeren“ Geldpolitik (etwa der EZB) wird dieser Tage Bretton Woods und die sich anschließende Liberalisierungspolitik zugunsten der Märkte als wesentlicher Marker des Anfangs vom Ende des Kapitalismus benannt. Dabei ließe sich der Zusammenbruch des Internationalen Währungssystems – wie er in den 1970er-Jahren besiegelt wurde – und mit ihm das Ende des sogenannten Goldstandards auch als Anfang vom Anfang betrachten.

Grandhotel Abgrund

Von Katharina Brienne

20.12.2020

Wie Aaron Sahr ausführt, sind Finanzprodukte wie Derivate, deren Architektur in der Finanzkrise nahezu den Kettentod vieler Finanzinstitute bedeutet hätten, nicht nur innerhalb der regulativen Freiheit der jüngsten Wirtschaftsgeschichte nach Bretton Woods entstanden. Ihr Bedeutungszuwachs gründe auch auf technologischen Potenzialen, die in den 1970er- und 80er-Jahren die Spielregeln der Finanzwelt neu bestimmt hätten.

Erst das Aufkommen neuer Verfahren der Wahrscheinlichkeitskalkulation („Black-Scholes-Formelgruppe“) und die Massenmigration von Mathematikern und Physikern (Quants), die diese Formeln in der Finanzwelt auch anzuwenden wussten, habe die Evolution von hybridem Geld, das in der Abstraktion von der Abstraktion von der Abstraktion nur noch als Idee an Realien gebunden ist, ermöglicht. Die Erfindung und Durchsetzung elektronischer Datenverarbeitungs- und Kommunikationssysteme habe zu dieser Entwicklung ebenso beigetragen, so Sahr. Zuvor an Schulden gefesselte Risiken können seitdem besonders effizient fragmentiert und distribuiert werden. Schulden inhärente Risiken können in Finanzprodukten wie Derivaten abgespalten und (vermeintlich) abgesichert werden.

Wider die Zukunft als Zufallskategorie

Dabei können Artefakte wie Geld ja durchaus auf unterschiedliche Weisen konstruiert werden. Aaron Sahr mag recht haben, wenn er schreibt: „Die Architektur des Geldes bestimmt, wer in unserer Gesellschaft die Geldschöpfung übernimmt. Wer also entscheidet, wie viel Geld es gibt und für wen.“ In modernen Geldwirtschaften wie der unsrigen sei diese Kompetenz eine wesentliche Macht-Ressource.

Wie diese Macht-Ressource genutzt wird und von wem, unterliegt indes keiner Schicksalsmathematik. Zukunft muss keine Zufallskategorie sein. Sie durch Handeln zu gestalten, beschrieb Hannah Arendt vielmehr als conditio per quam (hinreichende Bedingung) des menschlichen Seins. Arendt begriff die Conditio Humana im Rückgriff auf das aristotelische Verständnis des Menschen als zoon politikon: der Mensch als soziales, politisches Wesen. Das Handeln sei die einzige Tätigkeit, „in welcher der Mensch im eigentlichen Sinne zu dem werden kann, was er ist“.

In der Gegenwart verschränktes Denken

Nun enden Epochen nicht im Evolutionssprung. Das Moderne will erst institutionalisiert werden. Bis dahin erlaubt er Reaktion und Restauration. „Das technologische Befreiungspotenzial“, um auf Sohn-Rethel zurückzukommen, „des real-abstrakt bedingten Verstandes wird durch den Umstand erschwert, dass die [zu überwindende] Warenform sich der Denkform einbildet.“

Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt, befand wiederum der Philosoph Ludwig Wittgenstein: „Ich kann mit der Sprache nicht aus der Sprache heraus.“ Der Sinn der Welt müsse außerhalb der Welt sein. Nur wer noch viel verrückter als die Philosophen dächte, könne ihre Probleme lösen.

Was aber bedeutet all das für unsere Zeit und ihre Antworten auf die Krisen der Gegenwart? Wie ist Gesellschaft zu schaffen abseits dessen, worin wir uns eingerichtet haben? Inwieweit sind dazu die von Wittgenstein wie Sohn-Rethel beschriebenen Zentrifugalkräfte unseres Vorstellungsvermögens, wie Wirtschaft etwa sein könnte, zu sprengen? Sind sie überhaupt zu überschreiten, wenn wir wie Sohn-Rethel annehmen, dass Denken ohne Geld (vgl. Münzprägung in Ionien) kaum vorstellbar ist? Inwieweit ist es überhaupt legitim, an dieser Grenze der griechischen Antike Halt zu machen, ohne uns mit Gesellschaften wie etwa der mesopotamischen auseinandergesetzt zu haben?

Aus unserer Gegenwart gesprochen: Welche zukünftigen Realitäten formen sich aus Ankündigungen wie der von EZB-Chefin Christine Lagarde, die in einem Whitepaper öffentlich über Central-Bank-Issued Digital Currencies auf Basis einer Technologie wie der Blockchain nachdenkt? Inwieweit ließe sich mit einer solchen von Zentralbanken ausgegeben digitalen Währung das Zweifeln am finanzwirtschaftlichen Perpetuum mobile beheben und eine echte Alternative zu dem unendlich weiten Meer instabiler Cryptocurrencies schaffen? Oder ist Lagardes Plan nur eine Reaktion auf die eigentliche Revolution, die Digitalwährungen wie den Bitcoin meinen könnte? 

Screen New Deal und Markt 3.0

Welche Rolle nehmen soziale „Tauschbörsen“ wie Instagram, TikTok oder Youtube in der Wertschöpfungskette unserer Zukunft ein? Bestehen sie nicht heute schon analog zu jenem Kreislaufwirtschafts-Modell, das Aktivisten als Antwort auf unsere vom Klimawandel und von Spekulationsexzessen bedrohten Zeit fordern? Ließe sich Wirtschaft darin nicht als Markt 3.0 analog zum Web 3.0 organisieren? Wie ließen sich die Rahmenbedingungen eines solchen neuen Marktes abseits der durch Militärbudgets gepäppelten Tech-Unternehmen und ihrer Anwendungen festlegen? Welche Risiken bergen bereits bestehende All-in-Lösungen wie WeChat? Jene App, in der sowohl gechattet, als auch geshoppt, als auch bezahlt werden kann und die in der Kritik steht, Spähorgan der chinesischen Administration zu sein.

Warum lassen wir als User sozialer Plattformen zu, dass Werte, die wir durch Inhalte schaffen – mit Marketingbudget-Ausnahme jener Ikonen, die wir Influencer nennen –, an wenige Unternehmen wie Facebook fließen? Ja, wie lässt sich eine liberale Wirtschaftsordnung mit der Tatsache vereinbaren, dass es diese Umverteilung der Werte vieler zugunsten weniger Unternehmen mit enormer Marktmacht gibt?

Bedürften wir nicht eines Screen New Deals, in dem unser Eigentumsverständnis und -recht an unsere digitale Gegenwart angepasst wird? Warum herrscht in Institutionen wie der Europäischen Kommission stattdessen die Annahme vor, mit den Mitteln der Vergangenheit (auf Fiatgeld beruhende Schulden) an der Seite beratender Konzerne wie der Schattenbank BlackRock sei eine zur bestehenden Wirtschaftsordnung alternierende Welt im Green Deal zu organisieren?

Geld, wie wir es meinen zu kennen, existiert ohnehin lange schon nicht mehr. Unser Denken (und Handeln) bezieht sich wiewohl darauf, während a priori spätestens seit den 1970er-Jahren in der Wahrscheinlichkeitskalkulation der Banken unserer Zeit bereits die Zukunft formuliert wurde. Finanzprodukte wie Derivate stellen jene Meta-Abstraktion dar, aus deren Rolle als Vermittlungsglied Sein und Bewusstsein unserer Zeit entspringen.

Die Iden des März

„Es kommt ein wolkenloses Reich der vollkommenen Güter, auf die kein Geld fällt“: Dieser Satz geht auf den Philosophen Walter Benjamin zurück, wie ihn wiederum der Soziologe Wolfgang Eßbach in seiner Religionssoziologie über den „Entfesselten Markt und Artifizielle Lebenswelt als Wiege neuer Religionen“ anführt. Walter Benjamins Satz ist dabei als eine Besprechung des Kapitalismus als Kultreligion zu verstehen. Der Kapitalismus als Leben, an dessen Ende im Tod das wolkenlose Reich folgt.

Als Ziel der marxistischen Ideologie, schreibt Richard Löwenthal, sei eine Gesellschaftsordnung definiert, in der dank der zu erwartenden Steigerung von technischer Produktivität und allgemeiner Bildung keine Knappheit der materiellen Güter mehr bestehe und sich in der Konsequenz keine Notwendigkeit der beruflichen Arbeitsteilung zwischen denen, die körperliche und untergeordnete, und denen, die geistige oder leitende Arbeit leisteten, ergäbe.

„In diesem Problemkreis“, schrieb Georg Simmel in seiner „Philosophie des Geldes“, „ist das Geld nur Mittel, Material oder Beispiel für die Darstellung der Beziehungen zwischen den äußerlichsten, realistischsten, zufälligsten Erscheinungen und den ideellsten Potenzen des Daseins, den tiefsten Strömungen des Einzellebens und der Geschichte.“ Der Sinn und Zweck des Ganzen sei nur der „von der Oberfläche des wirtschaftlichen Geschehens eine Richtlinie in die letzten Werte und Bedeutsamkeiten alles Menschlichen zu ziehen.“