Visionen sind eine zwiespältige Angelegenheit. Den einen dienen sie als Diagnose-Kriterium nach dem ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme). Abseits der Mauern, die hinter sich verschließen, was therapiebedürftig scheint (Psychiatrie), werden Visionen in Business-Kreisen indessen groß gehandelt. Will der gemeine Entrepreneur doch am liebsten sein, für was Unternehmer wie Elon Musk als Vorreiter einer ganzen Tech-Generation besprochen werden: visionär. Dahinter ließe sich binnen Sekunden eine ganze Riege an Gründern aufzählen (Steve Jobs, Larry Page, Mark Zuckerberg), die das geschafft haben, was alle Manager wollen: ein Einhorn bauen (ein Start-up, das vor seinem Börsengang oder Verkauf eine Marktbewertung über 1 Milliarde US-Dollar erreicht).
Nun sind Ausnahmezustände wie Pandemien ausgezeichnete Rahmenbedingungen, um zum Visionär zu avancieren: Krisen befördern neue Kulte – oder Geschäftsideen. Viele heute große Unternehmen gehen auf die Idee ihres Gründers zurück, eine Lösung für ein Problem zu finden. Der Apotheker Henri Nestlé etwa sprang Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Idee des Chemikers Justus von Liebig, eine Fertignahrung für Säuglinge herzustellen. Die Säuglingssterblichkeit war in dieser Zeit hoch. Nestlé fügte Liebigs Rezeptur kondensierte Milch hinzu und brachte sein „Kindermehl“ 1868 nach einem Versuch an zwei (!) Säuglingen auf den Markt. Der Rest ist buchstäblich Geschichte und steht gleichsam für ein Narrativ, mit dem sich wiederum Entrepreneurship auch erklären ließe. Viele Unternehmungen waren visionär, weil sie Ideen anderer marktkompatibel nachbauten. Auf Steve Jobs zum Beispiel mag zurückgehen, den Heimcomputer kommerzialisiert zu haben. Den Prototypen dafür stellte allerdings mehr als 20 Jahre vor Jobs der Informatiker Edmund C. Berkeley vor. Auch das Design vieler Apple-Produkte ist keine im Unternehmen allein begründete Exzellenzinitiative. Apples Design versteht sich als Zitat der Arbeiten des Industriedesigners Dieter Rams.
Unternehmer wie Jobs, Page, Zuckerberg sind indessen vor allem bekannt geworden, weil sie Geschäftsmodelle wie Musk seine Teslas erfolgreich auf die Straße gebracht haben. Für die Wirtschaftsgeschichte des späten 20. Jahrhunderts zeichnet sich wiederum die Kommerzialisierung eines anderen Phänomens ab: das der Management-Gurus. Damit sind jene Protagonisten der Geschäftswelt gemeint, die in Büchern für die Nachwelt aufbereitet haben, wie ihr (erfolgreiches) Management für andere Entscheidungsträger zu antizipieren sei. Zwar hatte es mit Peter F. Drucker oder Frederick W. Taylor schon zuvor Manager gegeben, auf deren Bücher in der Lehre bis heute abgestellt wird. En masse verkauft sich Management-Literatur als Genre aber erst seit den 1980er-Jahren.
Historisch betrachtet verstehen sich die Business-Ratgeber als vielverkauftes Therapeutikum vor allem in der Reaktion auf die erste strukturelle Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. So schlidderten beispielsweise die USA infolge der Energiekrisen der 1970er-Jahre in eine schwere Rezession, gegen die der 1980 zum US-Präsident gewählte Ronald Reagan wetterte, die USA hätten ihren Zenit noch lange nicht überschritten. Die Ära des sogenannten Neo-Liberalismus hat hier ihren Anfang. Vom Krisen-Paradigma der 1980er-Jahre hat zum Beispiel der Chrysler-Sanierer Lee Iacocca profitiert. Seine Autobiografie stürmte damals die Bestsellerlisten – als eine der ersten, die auf die Bedürfnisse der Führungsetage von Unternehmen zugeschnitten war. Management-Leitfiguren wie Iacocca wurden damals als „prophets of profit“ zu Popstars, ihre Bücher zu Bibeln für Manager.
Das Pandemie-Jahr 2020 hat uns wiederum beschert, was die Sozialwissenschaft als Primat der Wirtschaft über die Politik beschreibt: Entrepreneure, die nicht ihren Kollegen, sondern der Politik, der Gesellschaft – ja, der Welt – erklären wollen, wie sie ordentlich zu managen sei. Fernsehsternchen (und Investoren) wie Frank Thelen erklären in Büchern wie „10xDNA: das Mindset der Zukunft“, wie die „größte Revolution der Menschheitsgeschichte“ funktioniert. Flugtaxis, Fleisch aus dem Labor und Häuser aus dem 3-Drucker – das ist der Stoff, der in Silicon Valley bereits seit 20 Jahren gehandelt wird, hier aber nochmal als Denkanstoß möglichst niedrigschwellig für die „Höhle der Löwen“-Zuschauer aufbereitet wird; also für alle, die Thelen bislang darüber reden haben hören, ob ein Start-up für Periodenunterwäsche verspricht, Gewinne abzuwerfen oder nicht. Über die Randerscheinungen der durch Tech motivierten Umbrüche – Kapitalakkumulation zugunsten der einen, zulasten der anderen und so weiter – wird hier nicht groß gesprochen. Wozu auch? Technologie löst alle Probleme.
Die Liste an Autorinnen, die 2020 versucht haben, allen zu erklären, wie Veränderung geht, ließe sich wie bei den Einhorn-Bauern oben schnell erweitern. Aber alles in allem sind sie oft nicht der Rede wert. Und ohnehin: Mit den acht Jahren, die Adam Smith an „Wohlstand der Nationen“ arbeitete, hat das alles nichts zu tun. Und deshalb stellen wir an dieser Stelle nun eine Shortlist an Büchern vor, die ein echtes Potenzial haben, beim Denken über Wirtschaft (und dementsprechend Handeln) voranzuhelfen – gerade weil sie nicht von Managern formuliert sind. Viel Spaß damit!
- Revolution? Reaktion!
Warum Hartmut Rosa oder Andreas Reckwitz lesen, wenn es einen geradlinigeren Weg zum Reaktionären gibt: Peter Sloterdijk. Schön konservativ. Äußerst radikal gegenüber den vielen links-identitären Überlegungen unserer Tage, könnte man meinen. Sloterdijk ist nun kein Überraschungshit. Wir kennen ihn lange. Wir kennen viel von ihm. Wir kennen ihn vor allem als jenen Philosophen, der sich die Menschheit in den Uterus seiner Mutter Erde zurücksehnt: Die Gebärmutter als heiliger Hort. Alles, was uns danach begegnet, setzt das Dasein nach der Vollkommenheit nur im Übel fort.
Nun ließe sich meinen: Och nö, wozu? Lieber progressiv! Aber der Witz ist doch, dass wir selbst bei Jan Böhmermann dieser Tage finden, was Sloterdijk mit dem hier behandelten Buch bereits Ende der 1980er Jahre an Kapitalismus-Kritik vorgelegt hat: „Die Mobilisierung des Planeten aus dem Geist der Selbstintensivierung“ oder „Panische Kultur – Wie viel Katastrophe braucht der Mensch?“ heißen Kapitel darin. Wer will denn mahnen, dass das eine Teresa Bücker in einer ihrer Kolumnen (den Feminismus betreffend) besser sezieren könnte. Die Hyperrealität des 21. Jahrhunderts überfordert. Alle. Das bringt Sloterdijk gut auf den Punkt. Ein wenig Begeisterung am Schachtelsatz bedarf es, um ihn zu lesen. Klar. Aber dann liest sich Sloterdijk aufregender als die philosophische Popkultur eines Byung Chul Hans.
Peter Sloterdijk. Eurotaoismus – Zur Kritik der politischen Kinetik. Suhrkamp 1989.
- Die Zukunft schrumpft
Apropos Kommunismus. Ach nein: Pferdestall. Ok. Warum nicht doch ein wenig mit Karl Marx ins Jahr 2020 übersetzt beschäftigen: „Der Kapitalismus zerstört die Grundlagen des Lebens und das Leben selbst. Er knüpft die Herrschaft an das Eigentum und unsere Tätigkeiten an Profit; er durchdringt unsere Demokratien und spaltet unsere Gesellschaften.“ Oder so: It’s the economy, stupid – die Wirtschaftslage entscheidet die Wahlen. Eva von Redecker ist Universen entfernt von Bill Clintons Wahlkampfstrategie, die auf James Carville zurückgeht. Aber beide treibt (und trieb) doch eine gemeine Angst um: die Wut der Mittelschicht – bzw. das, was inzwischen von ihr übrig geblieben ist. Was als Angst vor der Eurosklerose in den 1980er Jahren begann, übersetzt die spätestens mit der in den 90er Jahren für alle Ewigkeiten in das Bewusstsein der Lohnarbeitenden eingefräste Standortdebatte: Euch braucht es bald nicht mehr! Erst die Globalisierung, dann die Maschine. Rien ne va plus. Adieu! Dabei wusste schon Marx: Es bedarf der Entfaltung der Produktivkräfte im Kapitalismus, um die Menschen zu erlösen. Letzteres findet Eva von Redecker abgeleitet vom eigenen Leben auf dem Gutshof im Verzicht. Die Zukunft schrumpft – das ist der einzige Weg. Da ist sie ganz bei Bewegungen wie Exctinction Rebellion, die sie in ihrem Buch u.a. untersucht. Von Redecker liest sich fein und könnte keine bessere Grundlage sein, die eigenen Gedanken zu schärfen. Es soll krachen, was wir lesen, damit wir verstehen. „Revolution für das Leben“ will laut sein und ist es nicht. Aber das kann ja auch eine Lehre sein.
Eva von Redecker. Revolution für das Leben. Philosophie einer Protestform. S. Fischer Verlag 2020.
- Was ist hier schon real?
Apropos Störfunk. Pieeeeeeeeepppppp. Fühlen Sie sich noch mitten im zweiten harten Lockdown der Pandemie? „Virtual insanity“ sang Jamiroquai 1996 – ein musikalischer Übertrag der Orwellschen Dystopie. Wenn die Realität unerträglich ist, soll sie zumindest tanzbar sein. Nach der Zoom-Fatigue des zu Ende gegangenen Wirtschaftsjahrs ist bald vielleicht vor mit VR-Brillen ausgestatteten Grundschülern, die – wenn schon nicht „real“ – im Digitalen ihren Klassenkameraden begegnen. Wobei: real? Was ist hier schon noch real und was nicht? Und tada! Endlich kommen wir bei den eigentlich spannenden Themen unserer Gegenwart an. Oder um es mit Hans Blumenberg zu sagen: „Wie tritt der Mensch in Kontakt mit der Wirklichkeit und bildet ein Bewusstsein von ihr aus?“ Als Nachlass reproduziert „Realität und Realismus“ Blumenbergs Ideenwelt: Wirklichkeit als etwas, das erst auf Umwegen geschieht und auch erst dann, wenn wir durch eine Störung gezwungen werden, unseren selbstverständlichen Weltzugang zu hinterfragen.“ So gesehen: Wenn wir die Gegenwart zu kritisieren wissen, warum schreiten wir nicht durch das Fenster, in dem sie längst verlassen ist?
Hans Blumenberg – Realität und Realismus. Suhrkamp 2020.
- Geld schafft Welt
Ok. Einer geht noch. Oder sagen wir eher: eine Anthologie. Und zwar eine, von der Sie noch nie gehört haben werden. Versprochen! Wie auch. Alfred Sohn-Rethel: nur ein Stiefsohn jener Gelehrtentruppe, die als Frankfurter Schule vieles Seiende des 20. Jahrhunderts verriss. Wie fangen wir am besten an? Vielleicht so: Geld schafft Welt. Das ist eine der zentralen Thesen bei Sohn-Rethel. „Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus“, geht auf den Kulturwissenschaftler Fredric Jameson zurück. Bei Sohn-Rethel finden sich gute Gründe dafür. Etwa: Die Welt, wie wir sie denken und begreifen, existiert erst, seitdem es Geld gibt.
Die Losung dahinter: Geld setzt gleich, was nicht gleich ist. Deshalb ist Geld das genuine Medium der Abstraktion. Bei Sohn-Rethel stiftet Geld nicht nur Bewusstsein, weil es da ist. Seine Arbeit verweist vielmehr auf den mental-kognitiven Effekt von Tiefenstrukturen des (geldvermittelten) Tausches. Sohn-Rethels soziogenetische Erkenntnistheorie knüpft dabei an die von der Transzendentalphilosophie (Kant) behauptete apriorische Struktur von Vernunft als Resultat einer sozialen Pathogenese an: Die Form des Denkens – ja, abstrakten (und vermeintlich autonomen) Denkens überhaupt – als Resultat aneignungslogischer Sozialstrukturen. Sie meinen: OMG! Ich kehre umgehend zu Blinkist zurück? Wie soll das überhaupt irgendjemandem zuzumuten sein? Aber nein! Genau so wie bei Sohn-Rethel muss Denken doch sein. Strapaziös.
Rudolf Heinz/Jochen Hörisch (Hgg). Geld und Geltung. Zu Alfred Sohn-Rethles soziologischer Erkenntnistheorie. Verlag Königshausen & Neumann 2006.
- Überblick light
Gnade? Na gut. Wer will Ihnen nachsehen, dass Ihnen das alles zu viel ist. Die Pandemie. Die Kinder. Weihnachten. Beginnen Sie vielleicht damit: Texte zur Politischen Philosophie. Das lässt sich wirklich geschmeidig zum Abend lesen. Kurzkapitel hinter Kurzkapitel als Einführung in die wichtigsten Denker des Abendlandes seit – ja gut, immer. Die Textsammlung beginnt bei Platons „Der Staat“ (keine Angst, nicht mal 20 kleine Reclamheft-Seiten: eine Einführung plus Mini-Ausschnitt aus dem Primärtext), quert Machiavelli, Locke, Kant, Marx, Weber, Ahrendt und endet fast bei Habermas. Last but not least folgt nur noch Ronald Dworkins: „Was ist Gleichheit“. Danach sind Sie so was von fit, allen zeitgenössischen Diskursen die Vergangenheitspeitsche entgegenzuhalten. Willkommen zurück bei Sloterdijk. Hihi. So schließt sich der Kreis zum Reaktionären (er lässt sich von dort aus aber auch zerstören). Solange treiben Sie es bunt: Als ob nach Hegel irgendwer nochmal Neues gedacht hätte! Pfff!
