Berlin / Paris-Thomas Kehl kennen viele jüngere Menschen vor allem als „Thomas von Finanzfluss“. Sein Youtube-Kanal hat über 900.000 Abonnenten und auf Instagram 250.000. Zusammen mit der Journalistin Mona Linke hat er nun ein Buch geschrieben. Der Titel hat es in sich: „Das einzige Buch, das du über Finanzen lesen solltest“. In der Berliner Zeitung am Wochenende veröffentlichen die beiden exklusiv einen Auszug aus dem Werk, das kürzlich im Ullstein Verlag erschienen ist.
Ohne Finanzberater geht es nicht
Hast du dich schon einmal mit einem Kundenberater deiner Bank getroffen? Und falls ja: Erinnerst du dich noch, mit welchem Gefühl du damals die Filiale verlassen hast? Vielleicht möchtest du darauf antworten wie die Mehrheit der Teilnehmer einer Umfrage, den man diese Frage gestellt hat. Knapp 60 Prozent der Befragten waren überzeugt, der Berater habe sich mit seinen Empfehlungen an den individuellen Kunden-Bedürfnissen orientiert. Gut die Hälfte meinte sogar, dass die Kundenwünsche für den Berater an erster Stelle gestanden hätten.
Und damit dürften sie einer Illusion aufgesessen sein. Denn in Wahrheit spielt es für viele Berater keine Rolle, was für den Kunden das Beste wäre. Nicht ohne Grund: Jedem Kunden stets das für ihn passendste und günstigste Produkt zu empfehlen, würde für die meisten den finanziellen Ruin bedeuten. Doch um es gleich vorneweg zu sagen: Es wäre unfair, der gesamten Beratungsbranche den Schurkenstempel aufzudrücken, steht doch für einige Experten tatsächlich das Wohlergehen ihrer Kunden im Fokus. Und für einige Menschen kann das Gespräch mit dem Berater durchaus von Vorteil sein: Wer vorher noch nie mit finanziellen Themen in Berührung gekommen ist, beschäftigt sich dann immerhin mit den eigenen Finanzen - was schon einmal besser ist, als gar nichts zu tun.
Der Berater ist eigentlich ein Verkäufer
Bank- und Finanzberater haben ein anderes Interesse als ihre Kunden, die sie in einem verglasten Besprechungsraum zu einem „kostenlosen“ Gespräch empfangen. Und das hat einen einfachen Grund: Sie sind keine Berater, wie die Berufsbezeichnung es suggeriert, sondern Verkäufer.
Ziel des Kunden ist es, das Beste aus seinem Geld herauszuholen und in ein für ihn passendes Finanzprodukt zu investieren. Das Ziel eines Bank- oder Finanzberaters dagegen besteht darin, bestimmte Produkte zu verkaufen - aber längst nicht alle, die der Markt zu bieten hat. Stattdessen wird er seinen Kunden hauptsächlich jene Produkte anbieten, von deren Verkauf das Bankhaus profitiert, weil es an den Gewinnen des Produktanbieters beteiligt wird. Dabei kann es sich zum Beispiel um eine private Rentenversicherung handeln, die die Bank im Auftrag einer Versicherungsgesellschaft vermittelt. Oder um Anteile an einem Investmentfonds, dessen Herausgeber eine Tochtergesellschaft der Bank ist. Selbst wenn es also im Sinne des Beraters wäre, seinen Kunden bestmöglich entgegenzukommen - und das ist bei vielen Beratern der Fall -, dann wird er dazu häufig nicht in der Lage sein - weil er eben nur aus einem beschränkten, oft sehr teuren Produktportfolio wählen kann, das ihm sein Bankhaus zur Verfügung stellt. Warum der Bankberater handelt, wie er handelt, ist also nachvollziehbar.

Der ungezwungene Besuch in der Bankfiliale kann dann auch ziemlich ins Geld gehen. Überzeugt ein Berater einen Kunden beispielsweise von einem hauseigenen Investmentfonds, fällt direkt beim Kauf einmalig ein Ausgabeaufschlag an. Das ist eine Art Vertriebsprovision: eine Prämie dafür, dass das Produkt erfolgreich vermittelt wurde. Bei Rentenfonds beträgt der Ausgabeaufschlag schon mal fünf Prozent der angelegten Summe. Werden also beispielsweise 20.000 Euro direkt in den Investmentfonds investiert, ist der Kunde bereits bei Abschluss des Vertrages um 1.000 Euro ärmer.
Wir sehen also: Die Ziele eines angestellten Bankberaters sind Vertriebsziele, er und sein Unternehmen profitieren von den Abschlussprämien und -provisionen. Der Kunde möchte dagegen erfahren, welche Versicherungen sich für ihn lohnen oder wie er sein Geld am besten anlegt. Der Interessenkonflikt ist offensichtlich. Denn für den Kunden wird es durch das eingeschränkte Produktangebot und zusätzliche Kosten beinahe unmöglich, eine gute Entscheidung zu treffen. Am besten wäre es, er würde sich für ein Produkt entscheiden, bei dem überhaupt keine Abschlusskosten, Makler-Provisionen oder überteuerten Verwaltungskosten anfallen.Es gibt auch unabhängige Berater, die tatsächlich völlig autonom arbeiten und sich von ihren Kunden direkt pro Stunde bezahlen lassen. Solche Honorarberater stehen in keiner Verbindung mit einem Finanzinstitut, einer Bank oder einer Versicherungsgesellschaft. Sie machen aber nur einen Bruchteil der gesamten Beratungslandschaft in Deutschland aus.
Willst du dein Geld anlegen, bist du nicht gezwungen, von Beratern empfohlene mittelmäßige Fonds zu besparen oder zweitklassige Versicherungen abzuschließen. Was mit deinem Geld geschieht, entscheidest du selbst. Es geht um dein Geld, nicht um das des Beraters. Und deshalb wird auch nicht er sich in 20 Jahren ärgern, wenn du keine Rendite mit deinem Geld erzielt hast, sondern du selbst.
Als ich meiner Mutter einen überteuerten Fonds verkaufte
Noch krasser ist der Interessenkonflikt zwischen Berater und Kunde bei Strukturvertrieben. Was sind Strukturvertriebe? Wem das auf Anhieb nichts sagt, der muss vielleicht einfach nur in seiner Erinnerung wühlen: Gab es da nicht diesen einen, eher entfernten Bekannten, der einem seltsamerweise dauernd über den Weg lief und der nicht müde wurde, einem die Vorteile einer völlig kostenlosen Beratung oder „Analyse“ der eigenen finanziellen Situation anzubieten? Möglicherweise hat es sich bei diesem Zeitgenossen um einen Strukturvertriebler auf der Suche nach neuer Kundschaft gehandelt.

Auch im Strukturvertrieb werden Finanzprodukte verkauft, bloß passiert das außerhalb der Filiale und vor allem im eigenen Familien- und Freundeskreis. Auch hier geht es darum, Abnehmer für bestimmte Fonds oder Versicherungen zu finden, bei erfolgreichem Vertragsabschluss winkt dem Verkäufer eine Provision. Anders als bei der Beratung durch einen Bankmitarbeiter ist sie seine einzige Einnahmequelle. Ein festes Gehalt gibt es nicht, sprich: Seine Existenz hängt davon ab, dass er jeden Monat möglichst viele Produkte mit möglichst hohen Provisionen für ihn selbst an den Mann oder die Frau bringt. Der Verkaufsdruck ist also deutlich stärker als bei der klassischen Finanzberatung - und der Interessenkonflikt somit noch einmal extremer.
Strukturvertriebe sind hierarchisch aufgebaut. Neben dem eigentlichen Produktverkauf geht es gleichzeitig darum, neue Mitarbeiter anzuwerben. Sollte das tatsächlich gelingen, nachdem man unermüdlich im Bekanntenkreis herumgefragt hat, ob sich nicht jemand „ein wenig Geld dazuverdienen möchte“, steigt der neue Mitarbeiter eine Hierarchiestufe weiter unten ein als jener, von dem er angeheuert wurde. Und: Einen Teil der Provision, die der zuletzt angeworbene Vertriebler verdient, geht an seinen Anwerber. Auf diese Weise bekommt die Hierarchie-Treppe immer mehr Stufen, denn Ziel eines jeden Außendienstlers wird es sein, weitere Mitarbeiter an Bord zu ziehen und damit mehr zu verdienen. Das Ganze ist kein Zuckerschlecken, so viel kann ich aus eigener Erfahrung sagen, denn: In meiner Jugend war auch ich eine Zeitlang Teil dieser Branche.
Wie zig andere hochmotivierte junge Vertriebler versuchte ich, Menschen in WG-Küchen, am Telefon oder in meinem selbst angemieteten Büro von Finanzprodukten zu überzeugen. Geld gab es nur, wenn der Vertrag in der Tasche war. Umso größer waren die Versprechungen an die vielen kleinen Vermittler: „Du musst ja nur zehn Lebensversicherungen im Monat verkaufen, und schon hast du die 15.000 Euro zusammen. Und du wirst doch sicher fünf gute Freunde haben, die du beraten kannst und die dich dann an zehn andere weiterempfehlen?“ Mein 19-jähriges Ich hatte man damit überzeugt, und so machte es mir auch nichts aus, ganz unten im Pyramidensystem zu beginnen, sozusagen am Ende der Nahrungskette, und mich zum Berater ausbilden zu lassen. Und ja – auch ich habe mich gefreut, wenn ich lukrative Produkte wie eine Lebensversicherung loswerden konnte, bei deren Abschluss gleich zu Anfang 2,5 Prozent Provision ausgeschüttet wurden. Bei 30 Jahren Laufzeit und einer Vertragssumme von ungefähr 40.000 Euro bedeutete das für mich, auf einen Schlag 1.000 Euro zu verdienen.
Auf den ersten Blick reizvoll war auch der Ruhm, der einem zuteilwurde, hatte man nur genügend Fonds und Versicherungspolicen in einem Monat verkauft. Es gab sogenannte Motivationsreisen, die einen auf Firmenkosten in die schicksten Luxus-Ressorts dieser Welt führten. Jedes Jahr fand ein großes Event statt, wo einem auf einer riesigen, prächtig ausgeleuchteten Bühne vor Tausenden anderen, vor allem männlichen Kollegen und ihren Lebenspartnerinnen, ein Award für die eigenen „Vertriebserfolge“ überreicht wurde. In Begleitung von epischer Musik und unter goldenem Konfettiregen, versteht sich. Dieser Erfolg wurde letztlich an zwei Kernfragen gemessen: Wie viel Provision konntest du eintreiben, und wie viele neue, motivierte Berater konntest du an Land ziehen?
Schaut man sich das System von innen heraus an, wird es also kaum überraschen, dass ein „freier“ Finanzvermittler aus dem Strukturvertrieb einem Kunden in vielen Fällen nicht zu jenem Produkt raten wird, das für seine Bedürfnisse am besten geeignet wäre. Stattdessen wird er das Produkt anpreisen, das ihm die höchste oder überhaupt eine Provision beschert – also beispielsweise zu einer Kapitallebensversicherung raten, obwohl es Alternativen gibt, die für den Kunden viel profitabler wären, dir solche Produkte vorschlagen, die seine Organisation im Angebot hat, und damit nur einen Bruchteil aller möglichen Angebote, dir mitunter ein paar Jahre später zu einem neuen, „viel besseren und innovativeren“ Produkt raten, um erneut eine Provision und Abschlussgebühren einzunehmen. Auch ich konnte trotz meiner Ausbildung (sie bestand aus ein paar Wochenend-Vorträgen) nicht unterscheiden zwischen „guten“ und „schlechten“ Produkten.
Das einzige Buch, das du über Finanzen lesen solltest, Mona Linke, Thomas Kehl, Ullstein Verlag, 12 Euro
