Am Tempelhofer Ufer 36 wird gearbeitet. Und wie! In den zweiten Hinterhof gegangen, den alten Lastenfahrstuhl raufgefahren – schon stehen die Gäste zwischen Kartonbergen und Flipcharts, Regalen voller Ordner, Schreibtischen ohne Freiflächen. Junge Männer und Frauen bewegen sich flink durch ein Labyrinth aus Pappkartons, packen ein und packen aus, telefonieren, diskutieren, schauen nur kurz zur Begrüßung auf.
Wir besuchen Anita Tillmann in den Büros ihrer Premium Group, mit der sie die beiden großen Messen Premium und Seek sowie viele weitere Events veranstaltet. Dass ihr Konglomerat an Modeveranstaltungen ab Donnerstag (7. Juli) wieder in Berlin stattfindet, war vor wenigen Monaten noch nicht abzusehen. Denn im Juni 2020 hatte die Messechefin den Umzug ihrer Formate nach Hessen bekanntgegeben. Nach 17 Jahren und unzähligen Premium-Events, die damals parallel zur Berlin Fashion Week stattfanden, wolle sie fortan in Frankfurt veranstalten, wo gleich noch eine neue, eine eigene Modewoche entstehen sollte.
Während sich Politik und Publikum am Main die Hände rieben, kam Tillmanns Entscheidung an der Spree natürlich nicht gut an: Von einem „Messe-Beben in der Hauptstadt“ berichtete damals das Branchenblatt Textilwirtschaft; der Berliner Senat gab sich enttäuscht, einige Designerinnen und Designer waren entrüstet. Der Hashtag #wirbleibeninberlin machte auf den sozialen Medien die Runde. Ausrichten konnten Anita Tillmann und Geschäftspartner Jörg Arntz ihre Messen in Frankfurt allerdings nie – jede Saison kamen den beiden die Pandemie und ihre Regeln in die Quere.
Vor wenigen Monaten dann der nächste Paukenschlag, ein neues „Messe-Beben“: Die Premium Group gibt ihre Rückkehr in die Hauptstadt bekannt, die Frankfurt Fashion Week, die sich um die großen Messen der Premium Group etablieren wollte, muss nun ohne international etablierte Formate auskommen. Die Berliner Modewoche allerdings auch: Während diese erst im September stattfindet, laufen Premium, Seek und Tillmanns restlicher Event-Reigen schon in dieser Woche über die Bühne.
Trotzdem hat sich Anita Tillmann nur wenige Tage vor Messeeröffnung Zeit für ein Gespräch genommen. Sie wirkt ungewöhnlich entspannt – wie eine Messechefin, die nach zwei Corona-Jahren, zwei Umzügen und heftigen Diskussionen um sie und ihre Entscheidungen so schnell nichts mehr aus der Ruhe bringen kann.

Frau Tillmann, hinter Ihnen liegen zweieinhalb schwierige Jahre, in denen Sie Ihre Messen nicht ausrichten konnten. Mit welchem Gefühl gehen Sie nun in Ihre ersten großen Events seit Ausbruch der Pandemie?
Corona hat gerade bei uns ganz schön reingehauen, klar. Nicht nur, weil wir als Messeveranstalter zweieinhalb Jahre überhaupt keinen Umsatz machen konnten. Wir arbeiten ja sechs Monate auf drei Tage hin, an denen wir dann quasi das Geld für die nächsten sechs Monate verdienen. Und wir haben auch die vergangenen Saisons die komplette Produktion am Laufen gehalten, immer in der Hoffnung, dass die Messen doch stattfinden können. Dass wir jedes Mal kurz vorher absagen mussten, hat uns alle extrem frustriert. Umso besser ist jetzt die Stimmung, dass es endlich wieder losgeht. Wir freuen uns alle auf den Adrenalinschub, den uns diese großen Events geben, und der uns in den vergangenen zwei Jahren wahnsinnig gefehlt hat.
Haben Sie die unterschiedlichen Formate der Premium Group in dieser Zeit weiterentwickelt?
Ja, es gibt mehrere Facetten unserer Events, die jetzt anders sind. Zum einen findet alles das erste Mal an einem Ort statt. Früher haben wir mit unseren Fachmessen mehrere Locations bespielt: Station, Arena, Kraftwerk; dazu die vielen Partys und Dinner überall in der Stadt. Nun haben wir mit der Messe Berlin einen Standort gefunden, an dem wir alles parallel laufen lassen können, was für unsere Gäste und für uns sehr praktisch ist. Andere Formate und Events sind ganz neu hinzugekommen wie zum Beispiel die Conscious Club Conference, eine Nachhaltigkeitskonferenz, die wir mit dem Expertenteam um Magdalena Schaffrin und Max Gilgenmann erarbeitet haben.
Neu ist auch das Format „The Ground“, das sich dezidiert an Konsumentinnen und Konsumenten richtet.
Richtig. „The Ground“ soll ein Festival für Stil und Kultur sein, das vor allem die Gen Z anspricht – eine Generation, die ganz anders ist als alle Generationen vor ihr. Sie lebt mit anderen Wünschen, aber auch mit anderen Ängsten. Sie wächst in der Zeit des Klimawandels auf, mit einer Pandemie, seit wenigen Monaten leider auch in einer Zeit, in der es wieder Krieg in Europa gibt. Sie muss sich mit viel härteren Themen auseinandersetzen, als wir das früher getan haben. Uns geht es nun darum, diese Generation besser verstehen und auch unseren Partnern begreifbar machen zu können.

Warum ist Ihnen das so wichtig?
Als wir 2003 unsere erste Modemesse ausgerichtet haben, gab es eine Verschiebung in der Markthierarchie, die wir sicherlich mit angeregt haben. Davor lag die Macht gewissermaßen beim Einzelhandel, der bestimmen konnte, was die Konsumenten tragen. Wir haben dann mit angeschoben, dass dieser Einfluss an die Marken selbst übergeht; dass sie sich besser und direkter präsentieren konnten. Und jetzt befinden wir uns wieder in der Zeit einer solchen Verschiebung: Hin zu den Konsumentinnen und Konsumenten selbst, die heute viel kritischer und besser informiert, einfach aufgeklärter sind. Die Jugendlichen dieser Generation, von der ich eben gesprochen habe, brauchen die Modemarken gar nicht mehr, um sich ihre Identitäten zu schaffen. Aber die Modemarken brauchen sie als die Kundschaft der Zukunft. Das ist eine Neuordnung der Verhältnisse, die wir begleiten wollen und müssen.
Welche Rolle kann „The Ground“ dabei spielen?
In dieser Generation, die ich gerade beschrieben habe, geht es ganz stark um Communities, die sich über verschiedene Themen zusammenfinden. Und die spiegeln wir auf unserem Festival. Dabei werden auch schwierigere oder ideelle Themen wie Mental Health bespielt oder der Wunsch nach Frieden, der jetzt größer und wichtiger denn je geworden ist. Aber zum Frieden gehört eben auch eine gewisse Leichtigkeit, zu mentaler Gesundheit gehören Glücksmomente. Deswegen ist es auf jeden Fall möglich und auch nötig, um diese Themenkomplexe herum auf unserem Festival eine Welt zu bauen, die zum Spaßhaben einlädt. Als Messe- und Eventveranstalter wollen wir unseren Partnern dabei helfen, ihr zukünftiges Publikum besser verstehen und erreichen zu können. Und das funktioniert bei der Gen Z eben anders als bei den vorangegangenen Generationen.
Ist „The Ground“ als Veranstaltung, die auch ganz normalen Gästen offensteht, also eine Art Experimentierfeld? Eine Vorschau auf das, was auch aus Ihren klassischeren Messe-Formaten Premium und Seek werden könnte?
Das kann man schon so sehen. Wobei auch Premium und Seek für mich nach all den Jahren noch Experimentierfelder sind. Gerade in der Modenbranche müssen Veranstaltungen flexibel bleiben, sie entwickelt sich ja wahnsinnig schnell und nicht immer vorhersehbar. Es gibt einen Satz von meiner Großmutter, den ich schon wahnsinnig oft zitiert habe: Wenn es nicht so läuft, wie du es dir vorstellst, dann stell dir eben etwas Neues vor. Dieser Satz hat mich mein Leben lang begleitet und er ist heute noch genauso treffend wie vor 20 Jahren.

Wenn wir mal nicht 20 Jahre zurück-, sondern 20 Jahre vorausschauen: Wird es klassische Messen dann noch geben?
Was es sicher nicht mehr geben wird und auch jetzt schon nicht mehr gibt, ist ein starrer Kalender, der zwei Termine im Jahr vorsieht, auf denen die Kollektionen gesichtet und geordert werden – und das war’s dann. Messen sind schon heute organisierte Branchentreffen, auf denen es eher um die Begegnung und den Austausch geht. Und das muss es, glaube ich, immer geben: das direkte, physische Zusammenkommen, bei dem Ideen ausgetauscht und neue Verbindungen eingegangen werden. Wie sehr das gefehlt hat, haben wir ja gerade in den vergangenen zwei Jahren gemerkt.
Was sagen denn die Zahlen im Hinblick auf Ihre nun anstehenden Messen? Ist das Niveau, was die ausstellenden Marken und die angemeldeten Gäste angeht, vergleichbar mit jenem vor der Pandemie?
Wir sind bei knapp 78 Prozent an Ausstellern im Vergleich zu den Jahren vor Corona. Das ist weniger, als ich mir wünschen würde, aber mehr, als ich erwartet hatte. Was die Besucherinnen und Besucher angeht, sieht es ähnlich aus, was im Endeffekt bedeutet, dass Marken und Gäste zahlenmäßig in einem guten Verhältnis zueinander stehen. Die Pandemie hat unsere Branche eben schwer gebeutelt, einige Unternehmen gibt es gar nicht mehr. Und nun kommen noch viele Firmen dazu, die entweder 30 Prozent ihres Umsatzes in Russland gemacht oder in der Ukraine produziert haben. Die müssen sich jetzt erstmal neu aufstellen, bevor sie sich wieder präsentieren können.
Gibt es auch Modemarken, die in den vergangenen Monaten schlichtweg gemerkt haben, dass sie für ihre Geschäfte gar keine Messen brauchen?
Auch die gibt es, klar. Es gibt ja ohnehin auch Firmen, die seit Jahren nicht mehr auf Fachmessen gehen. Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht auch mit einigen von denen zusammenarbeiten. Manche Marken wollen oder müssen sich nicht unbedingt auf unseren Messen präsentieren, wollen aber andere Veranstaltungen eben im Rahmen dieser großen Branchenzusammenkunft realisieren. Für die ist dann auch „The Ground“ interessant.
Welche Rolle spielt beim Interesse an Ihren Formaten der Umstand, dass sie nun doch wieder in Berlin stattfinden? Sie wollten Premium und Seek die vergangenen zwei Jahre ja eigentlich in Frankfurt ausrichten, haben sich vor einigen Monaten aber für eine Rückkehr entschlossen.
Das lässt sich so einfach nicht beantworten. Für Frankfurt hatten wir ein ganz anderes Konzept ausgearbeitet, weil die Stadt andere Qualitäten hat als Berlin. Frankfurt ist der weltweit größte Anbieter für Textilmessen. Unsere Idee war, dort die Textilbranche und die Modebranche näher zusammenzubringen. Die Neugier darauf war groß, aber dann hat uns die Pandemie immer wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und zwei Jahre lang ein Konzept zu verkaufen, das dann wieder und wieder nicht umgesetzt werden kann – das geht irgendwann einfach nicht mehr. Wir haben viel Geld in unsere Vorhaben investiert; wir haben viel Geld verloren in diesen beiden Jahren. Dass aus unseren Plänen für Frankfurt am Ende nichts geworden ist, bedaure ich.
Ist die Pandemie der einzige Grund, warum Sie mit sämtlichen Formaten nun nach Berlin zurückgekehrt sind?
Berlins neue Regierung hat uns angesprochen, ob wir uns vorstellen könnten zurückzukommen. Für uns war dabei eine Planbarkeit und eine gute Zusammenarbeit entscheidend, die wir mit der Vorgängerregierung so nicht immer hatten. Das war auch ein Grund, warum wir Berlin überhaupt verlassen mussten. Es mangelte an Hilfeleistung, zum Schluss ganz konkret an einer geeigneten Location hier in Berlin. Wir haben sehr lange dafür gekämpft, unsere Messen im Flughafen Tempelhof ausrichten zu dürfen, haben immer wieder spannende, nachhaltige Konzepte für die Stadt entwickelt, aber wurden am Ende nicht gehört. Mit der neuen Regierung ist das anders, wir konnten uns zum Beispiel schnell auf die Messe Berlin als neue Location einigen. Dort zahlen wir übrigens auch Miete, da muss sich niemand Sorgen machen. Der Senat schustert uns keine Millionen zu. Das hat er noch nie gemacht und das ist auch nicht seine Aufgabe.
Sie spielen auf die vielen Gerüchte an, die es in den vergangenen Monaten und Jahren gegeben hat. Behauptungen, dass Frankfurt und Berlin sich mit finanziellen Angeboten an die Premium Group überboten hätten. Generell wurden Ihre Entscheidungen hier in der Stadt nicht nur sachlich, sondern auch sehr emotional diskutiert, nicht immer mit dem nötigen Respekt. Hat Sie das getroffen?
Ich sage mal so: Man hört und liest ja immer nur die Stimmen, die sich generell gern in der Öffentlichkeit produzieren. Die möglichst laut und möglichst kritisch sein wollen. Es gab aber mindestens genauso viele Leute, die unsere Geschäftsentscheidungen nüchtern betrachten und auch nachvollziehen konnten. Die damals genauso frustriert waren in der Stadt und mit den Umständen, unter denen hier große Modeveranstaltungen ausgerichtet wurden. Wir haben Entscheidungen getroffen, weil wir sie treffen mussten – sonst hätten wir unsere Türen unter Umständen ganz schließen müssen. Die Premium Group steht für Transformation und dafür, Dinge schnell und selbstbewusst umzusetzen. Viele bewundern das, andere erschreckt es. Aber mein Geschäftspartner Jörg Arntz und ich sind niemandem Rechenschaft schuldig. Für jede Entscheidung, die wir treffen, tragen wir das volle unternehmerische Risiko. Insofern konnten wir auch während der Wochen dieser hitzigen Diskussionen gut schlafen.




