Berlin-Es ist ein wenig, als ob die Tochter aus gutem Hause sich in einen Gangster verknallt hat. Sie zieht die riesigen Kapuzensweater ihres unsoliden Freundes an und borgt sich sein Cap. So kann sie sich aus ihrer heilen Welt an den Rand der Gesellschaft fantasieren.
Auch die Mode ist fasziniert von der rustikalen Aura des prekären Milieus, dessen Protagonisten die Etikette des Establishments egal ist. Die Designer lieben diese Attitüde mit Haut und Haaren: Tattoos und Piercings allerorten, aber auch der Vokuhila (Abkürzung für: vorne kurz, hinten lang) erlebt dieser Tage ein großes Comeback. Damit setzt er der Radikalisierung der Mode in der Tat die wüste Krone auf.
Als Durchbruch dieser Frisur in der High-Fashion gilt gemeinhin die Präsentation der Herbstkollektion 2013 von Marc Jacobs, in der alle Models einen schwarzen Vokuhila trugen. Jacobs hatte der neue Haarschnitt von Edie Campbell dazu inspiriert. Campbells Frisur wiederum war das Werk des Haar-Stylisten Guido Palau, der dem britischen Edelmodel kurz vorher einen Vokuhila für einen US-Vogue-Shoot mit Steven Meisel geschnitten hatte. Palau stylte auch besagte Jacobs-Präsentation in New York, allerdings bekamen die meisten Models von ihm eine Perücke. Es war schließlich der Signature-Look von Edie Campbell, das reichte ja vorerst.
Der Vokuhila kämpft sich nach oben
Einige Legenden ranken sich um die Entstehung der Anti-Frisur. Die schönste ist, dass es Fabrikangestellten aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt gewesen sein soll, eine Langhaarfrisur zu tragen. Aus Protest schnitten sie sich die Mähnen nur vorne kurz und ließen sie am Hinterkopf lang. Business in the front, party in the back, wie man im Englischen sagt. Wo und wann sich das zugetragen haben soll, ist nicht überliefert. Aber die Geschichte ist hübsch.

Zunächst war der Vokuhila eine Männerdomäne, in den 1970er- und 80er-Jahren erreichte der Haarschnitt seinen modischen Höhepunkt. Allerdings kam er nie in der Mitte der Gesellschaft an – seine Träger waren erst Prolls, dann Popstars. Noch vor der Mode gefiel der Popmusik das empörungswürdige Image der Frisur, und viele Künstler adaptierten sie. David Bowie trug bereits Anfang der Siebziger als Ziggy Stardust einen rot gefärbten Vokuhila (inspiriert von seiner damaligen Ehefrau) und sah sensationell fuchshaft damit aus. Auch Paul McCartney zeigte sich mit der Frisur, zwar nicht rot, aber schwarz und konsequent verwuschelt. Kurz darauf trugen George Michael, Limahl, Nik Kershaw und Simon LeBon einen Vokuhila. In Deutschland fanden vor allem Schlagersänger und Fußballer Gefallen an dem ambivalenten Schnitt.
Danach kamen die Frauen auf den Geschmack. Der weiblichen Gay-Szene schreibt man es zu, die Macho-Matte zuerst entdeckt zu haben. Als der Vokuhila in den Neunzigern zunächst vollkommen aus der Mode war, wurde seine Durchschlagskraft als Provokation noch stärker. Auf Frauenköpfen wirkte er besonders extrem, denn das Schönheitsideal von wallendem, langem Haupthaar löste sich dabei in ein haariges Schlachtfeld voller Bürzel und Strähnen auf. Für manche ein Jammer, für andere ein Befreiungsschlag. Letzteres vielleicht auch für Scarlett Johansson, die sich 2003 plötzlich mit einem blonden Vokuhila zeigte. Die Begeisterung der Presse hielt sich in Grenzen. Viele folgten ihrem Beispiel damals nicht – bis zu jener Marc-Jacobs-Show: Prompt sah man auch Rihanna damit. Und wieder schimpfte die Presse.

Die Designermode hingegen war angefixt. Die Frisur zeigte sich nun in unzähligen Varianten auf dem Runway, von punkig überzogen bis vornehm angedeutet: bei Jean Paul Gaultier noch in derselben Saison, später bei Saint Laurent, Maison Margiela, Louis Vuitton, Givenchy, Gucci und Prada. Elise Agee, Sarah Brown und Henry Kitcher waren die gut gebuchten Vokuhila-Rebellen unter den Models.
Der Vokuhila sitzt im Maybach
Nun haben wir 2020, und die haarige Antithese ist präsenter denn je – und Hedi Slimane offenbar ihr größter Fan. Der Cast des Celine-Kreativdirektors trägt den Mullet, wie der Vokuhila auf Englisch heißt, derzeit rauf und runter. In allen Varianten. Allerdings: Der Cut hat eine Veredelung erfahren. Schaut man sich etwa das Model Guillaume Fillol an, der für die Celine Homme SS/21-Kollektion als E-Boy über den Racetrack lief, sieht man den kleinen, feinen Unterschied zum Vokuhila um 1980: Pony und Seiten sind zwar kurz, aber das Deckhaar bleibt heute deutlich länger.

Celine Homme/Morgan Roudaut
Ein Mann vom Fach ist der Berliner Top-Friseur Dennis Creuzberg. Er weiß, dass der reale Vokuhila anno 2020 das Original eher andeutet, als es zu kopieren: „Die meisten Kundinnen wollen eine leichtere Variante – kurzer Pony, leicht durchgestuftes Deckhaar, untenrum länger.“ Creuzberg findet, dass der Vokuhila am besten Frauen mit extra femininen Zügen wie Miley Cyrus steht: „Bei ihr sieht es einfach großartig aus! Sie ist der perfekte Typ dafür, weil sie eine echte Beauty ist und gerne Make-up verwendet. Der Bruch, der durch den Vokuhila entsteht, ist super spannend und macht ihren Look viel interessanter als eine klassische Langhaarfrisur.“
In der heutigen Form könnte der Vokuhila tatsächlich für uns alle funktionieren. Dennoch bleibt der Schnitt ein Statement. Denn eins ist sicher: Solange Typen wie Joe Exotic, der irre Tigerzüchter aus Oklahoma, einen Vokuhila tragen, wird diese Frisur ihren prekären Charme nicht verlieren. Was die aktuelle Mode überhaupt nicht stört, ganz im Gegenteil: Schließlich lebt sie von der Ambivalenz und romantisiert, was ihr gefällt.


