Fashion-Talk

Alber Elbaz: „Die Welt der Mode-Musen ist überhaupt nicht mehr zeitgemäß“

Nach 5 Jahren Pause meldet sich Kultdesigner Alber Elbaz zurück. Und sagt: „Frauen sind keine Puppen, die ich verkleiden will.“ Ein Interview über Mode und Ego.

Scheu, neurotisch, ziemlich clever: der Pariser Modeguru Alber Elbaz.
Scheu, neurotisch, ziemlich clever: der Pariser Modeguru Alber Elbaz.AZ Factory/Ronja Jung

Paris-Alber Elbaz ist erklärter Hypochonder. Er esse dieser Tage so oft wie möglich, um sicherzugehen, dass sein Geschmacks- und Geruchssinn noch funktioniert, erzählt er mir schelmisch während des Interviews. Dass unser Gespräch im Lockdown via Zoom stattfindet (und nicht etwa in seinen neuen Büroräumen in der Pariser Fondation Cartier im 14. Arrondissement), liegt somit auf der Hand. Doch die sympathische Aura des 59-Jährigen wirkt auch auf Distanz. Vor einer froschgrünen Wand sitzend, erklärt er mir mit Witz und Charme, was hinter seinem neuen Label AZ Factory steckt. Und wieso die pandemisch angeschobene Abstraktion unserer Kommunikation gerade für Frauen eine gute Sache sein kann.

Herr Elbaz, Sie sind einer der beliebtesten, meist geachteten Designer der Modebranche. Für viele war es ein Schock, als Sie 2015 das Modehaus Lanvin überraschend verließen. Warum hat es so lange gedauert, bis Sie endlich Ihr eigenes Label hatten?

Ich war einfach nicht mehr verliebt in meinen Beruf. Das ist wie bei einer Frisur: Nancy Reagan hatte ihr Leben lang die gleiche, aber bei mir ist das anders. Manchmal hat man eben das Bedürfnis, etwas zu verändern. Die Haarstruktur ändert sich, die Mode, die Kleider. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken, zum Träumen. Um meine Lebensfragen zu verstehen und um eine Geschichte zu finden, die zu mir passt.

Von A(natomisch gestrickt) bis Z(ipper): Die schmucke Zugkette am Reißverschluss der neuen Elbaz-Kleider hilft beim Ankleiden – besonders, wenn der Zipper im Rücken sitzt.
Von A(natomisch gestrickt) bis Z(ipper): Die schmucke Zugkette am Reißverschluss der neuen Elbaz-Kleider hilft beim Ankleiden – besonders, wenn der Zipper im Rücken sitzt.AZ Factory/Ronja Jung

Wie haben Sie diese fünf Jahre, abseits von der Modeindustrie, erlebt?

Es war wunderbar und schwierig zugleich. Schwierig, da ich ein bisschen allein war. Aber auch wunderbar, weil ich von der ganzen Industrie immer mit offenen Armen empfangen wurde. Es ist nicht ein einziges Mal vorgekommen, dass ich eine Journalistin angerufen habe und sie mich nicht zurückrief. Im Gegenteil: Alle versuchten, mir einen Job zu besorgen, das werde ich nie vergessen. Aber ich wollte trotzdem keine Mode mehr machen. Denn wenn die letzten Jahre wunderbar waren, dann vor allem deshalb, weil ich morgens angstfrei aufstehen konnte. Ich konnte wieder zeichnen, wie damals, als ich Kind war (er zeichnete etwa täglich das Outfit seiner Lehrerin, d. Red.), und mir sagen, dass alles möglich ist.

Irgendwann wollten Sie aber doch wieder zurück auf die Modebühne, richtig?

Es gab Momente, in denen ich mich dermaßen langweilte, dass ich gar nicht merkte, wie sehr Langeweile auch die Grundlage von Kreativität sein kann. Wir sind so daran gewöhnt, dass unsere Terminkalender übervoll sind, dass wir gar keine Zeit mehr haben, zu uns selbst zu kommen. Ich glaube, diese Periode der Einsamkeit hat mir Antworten auf viele Fragen gebracht: Was kann ich machen, um glücklich zu sein? Was kann ich tun, damit die Industrie ein bisschen glücklicher wird? Was kann ich machen, damit die Frauen in Geschäften nicht durch unzählige Etagen mit 60.000 Kleidern irren müssen? Und: Warum sagen mir alle, dass sie nichts mehr zum Anziehen finden, weil alles superteuer geworden ist?

Das alles habe ich zwar nicht in eine Datenbank eingeschleust, aber es hat sich in mein Hirn eingebrannt und ist in meinem Herzen gelandet. Und als wir mit AZ Factory angefangen haben, sagten wir uns: Wir wollen Kleider machen, die eine raison d’être haben, einen berechtigten Grund für ihre Existenz. Jeder hat schon zehn schwarze Kleider, aber unseres ist mittels Stricktechnologie so hergestellt, dass es nirgends einzwängt oder zusammenpresst. Sondern dich liebevoll in den Arm nimmt.

Warum blicken wir Modeleute hartnäckig in die Vergangenheit, aber die Ingenieure im Silicon Valley in die Zukunft?

Alber Elbaz

In Ihrem unterhaltsamen Launch-Kurzfilm „The Show Fashion“ auf YouTube erzählen Sie, dass Ihnen das Konzept für Ihr neuen Label – Mode plus Technologie – im Silicon Valley einfiel. Können Sie uns mehr zu dieser Reise erzählen?

Silicon Valley war für mich ein Trigger-Erlebnis. Denn wie gesagt: Ich war nicht mehr wirklich verliebt in meinen Beruf. Gleichzeitig hatte ich keine Ahnung, was ich sonst machen sollte mit all der Zeit. Und auf der anderen Seite des Ozeans war da diese Stadt voller junger, wacher Ingenieure, die nachdenken und Lösungen finden und die ganze Zeit über Innovationen sprechen.

Ich wollte wissen, was das Geheimnis dieses Ortes ist. Warum heißt es in unserer, also der modischen, Welt „Design“ und dort „Innovation“? Warum ist bei ihnen nach vorne alles offen, während es bei uns nur um Traditionen geht? Warum blicken wir hartnäckig in die Vergangenheit und sie in die Zukunft? Das war meine Recherchearbeit, ich wollte das alles verstehen.

Aber keine Sorge, der Rest der Geschichte ist deutlich weniger kompliziert! Denn man könnte auch sagen: Mode ist wie ein Brathähnchen. Bloß nicht zu viel darüber nachdenken, sondern einfach essen und genießen, was auf dem Teller ist.

Elbaz' „MyBody 2.0“-Dress mit Ballonärmeln und farblich abgesetzten Bereichen, die mit mehr Shaping-Druck gewirkt sind.
Elbaz' „MyBody 2.0“-Dress mit Ballonärmeln und farblich abgesetzten Bereichen, die mit mehr Shaping-Druck gewirkt sind.AZ Factory/Ronja Jung

Was genau ist bei AZ Factory anders als bei Designermode, wie wir alle sie kennen?

Wir erfinden Geschichten und keine Kollektionen. Einmal geht es um den weiblichen Körper, einmal um den Pyjama und dann wieder um etwas anderes. Zum Launch haben wir mehrere Themen auf einmal gezeigt, weil wir erst einmal erklären mussten und wollten, wer wir sind. Aber das wird nicht immer so sein.

Ich stelle mir meine Kundin aus Prinzip nicht vor. So etwas wie „die ideale Kundin“ oder eine Muse, das ist nicht mehr zeitgemäß.

Alber Elbaz

Wenn Sie sich Ihre ideale AZ-Factory-Kundin aus Berlin vorstellen: Was für ein Typ wäre sie, wo würde sie herkommen und was würde sie beruflich machen?

Ich liebe Berlin, ich war schon oft dort. Aber ich stelle mir meine Kundin aus Prinzip nicht vor. Ich glaube nämlich, diese Welt der Musen à la Givenchy mit Audrey Hepburn, das alles ist überhaupt nicht mehr zeitgemäß. Früher hat man ein Parfüm wegen eines Stars gekauft, der dafür Werbung macht. Heute sagen mir die Frauen um mich herum: I don’t care! Sie möchten einfach ein Parfüm, das zu ihnen passt, zu ihrem Körper, zu ihrem Metabolismus, zu ihrem Leben. Es ist nicht die Personality auf einem Cover oder der Name des Labels. Genau da sehe ich den Wandel im Konsumverhalten, im Denken und Tun: Man kann den Menschen nichts mehr aufzwingen.

So ist weniger (am Leib) tatsächlich mehr: „MyBody“-T-Shirts (250 Euro) und spitze „Pointy Sneaks“ (455 Euro), alles von AZ Factory.
So ist weniger (am Leib) tatsächlich mehr: „MyBody“-T-Shirts (250 Euro) und spitze „Pointy Sneaks“ (455 Euro), alles von AZ Factory.AZ Factory/Ronja Jung

Was, glauben Sie, wollen Frauen heutzutage täglich anziehen?

Es ist an der Zeit, Frauen sie selbst sein zu lassen. Manche kommen zu mir und sagen: Alber, kannst Du mich verwandeln? Das ist das Einzige, was ich nicht möchte: Ich will niemanden verwandeln! In unserem Launch-Video hatten wir viele Vignetten von Frauen, wie Kurzporträts. Ich habe die Mädchen vorher gebeten, zu sprechen und untereinander Dialoge zu führen. Das ist ziemlich symbolisch gemeint: Es geht darum, die Stimme der Frauen zu hören. Ich weiß nicht, ob dass Wort „Feminist“ auf mich zutrifft, aber ich liebe die Frauen. Ich betrachte sie nicht wie Puppen, die ich verkleiden möchte. Ich möchte, dass man sie sieht und sie nicht hinter den Kleidern verschwinden.

Auf Zoom sehe ich Ihren Po, Ihre Beine gar nicht, ich sehe nur Ihr Gesicht und höre Ihre Fragen. Das ist die neue Realität von Frauen. Das ist etwas Gutes.

Alber Elbaz

Was denken Sie: Wie hat sich das Leben von Frauen auf diesem Planeten seit 2001 verändert, als Sie als Kreativdirektor bei Lanvin anfingen?

Ich glaube, die letzten Jahre waren Jahre eines großen Wandels. Vor allem durch Social Media – ob man sie nun liebt oder hasst, sie werden bleiben – gibt es heute viel mehr Transparenz. Man hört die Stimmen der Frauen und muss sie respektieren. Schauen Sie, die Welt per Zoom, unser Interview hier, ist tatsächlich ein „zoom in“. Denn: Ich sehe Ihren Po, Ihre Beine ja gar nicht, ich sehe nur Ihr Gesicht und höre Ihre Fragen. Das ist die neue Realität von Frauen. Man beurteilt sie aktuell über ihre Stimme, ihre Intelligenz und nicht über die Größe ihrer Brüste. Das ist etwas Gutes.

Nicht ohne meine Seidenfliege: Alber Elbaz mit Meryl Streep in Lanvin, 2015 in New York.
Nicht ohne meine Seidenfliege: Alber Elbaz mit Meryl Streep in Lanvin, 2015 in New York.Getty/AFP/Dimitrios Kambouris

Hat sich auch die Modebranche entsprechend verändert?

Unsere Kollektionen werden nicht mehr vor hundert handverlesenen Journalisten präsentiert. Es sind Livestreams, und damit haben wir auch ein anderes Publikum. Wir können nicht alle das gleiche Lied singen, denn vor 20 Millionen Menschen kann man nicht a capella singen. Es ist nicht der gleiche Sound, wenn man seine Musik vor Millionen Menschen statt vor einigen wenigen in einer getäfelten Konzerthalle vorträgt.

Was heißt das ganz konkret?

Als Designer muss man sich einfach sagen: Ich mache jetzt ein Kleid mit drei Löchern, und das ist alles. Wissen Sie, in unserem Metier gibt es zwei Schulen: Entweder sehr kommerziell, das heißt, man macht genau das, was die Leute wollen; oder man kreiert große Dramen – um hinterher dann doch nur Sneakers zu verkaufen. Ich habe einen schwierigeren Weg gewählt, nennen wir ihn mal den Weg der Mitte. Ich möchte für meine Kleider keine 50 Meter Stoff verschwenden, aber trotzdem zum Träumen anregen.

Heute mache ich Kleider für 1200 Euro. Früher war das der Preis für ein T-Shirt von mir.

Alber Elbaz

Sie haben sich selbst als Comic-Figur erschaffen und spielen auch in dem Film, mit dem Sie Ihr Label gelauncht haben, die Hauptfigur. Warum heißt Ihre Marke dann nicht einfach „Alber Elbaz“, so wie Sie? Schließlich sind Sie selbst bereits eine Marke.

Ich wollte kein Label gründen, bei dem es nur um einen Designer geht. Ich wollte ein Brand erschaffen, das auch ohne mich weiterexistieren kann. A und Z, das sind der erste und der letzte Buchstabe meines vollen Namens, fand ich außerdem sehr symbolisch: von A bis Z. Wir haben wirklich bei null angefangen, als kleines Start-up mit nur wenigen Leuten. Ich habe noch nie mit so wenigen Leuten gearbeitet. Ich komme aus dem Luxusbereich, was bedeutet: Ich weiß genau, was ich will. Aber wenn ich im Atelier nur drei Leute habe statt dreißig, muss ich Kompromisse eingehen. Heute mache ich Kleider für 1200 Euro; früher war das der Preis für ein T-Shirt von mir.

Der Rockteil aus rotem Satin macht was her, das Stretchoberteil hält alles bequem wie Streetwear: Elbaz’ rasanter Abendlook.
Der Rockteil aus rotem Satin macht was her, das Stretchoberteil hält alles bequem wie Streetwear: Elbaz’ rasanter Abendlook.AZ Factory/Ronja Jung

Was ist für Sie selbst der größte Unterschied zu Ihrer Arbeit als Kreativdirektor von Lanvin oder davor bei Saint Laurent?

Sein Ego außen vor zu lassen, das ist sicherlich das Schwerste. Denn manchmal denke ich: Wow, das ist so simpel, dass ich mich fast schäme. Aber es ist das, worauf ich gerade Lust habe. Es ist genauso, als ob mich jemand fragt, ob ich jeden Tag Kaviar essen möchte oder lieber ein Omelett mit Tomaten. Manchmal will man das eine, manchmal das andere, manchmal beides ... Aber so viel ist sicher: Auf keinen Fall will ich jeden Tag Kaviar essen. Und dabei liebe ich Kaviar!

Wenn Ihnen eine gute Fee die Macht gäbe, aus dem Stand und sofort etwas am globalen Modesystem zu verändern: Was wäre es?

Hmmm, darauf habe ich im Moment keine gute Antwort. Ich muss das erst wieder richtig von innen erleben, um es beurteilen zu können. Aber wenn ich eine Sache wählen müsste, würde ich sagen: Zeit. Mehr Zeit, um Dinge zu erschaffen.


Alber Elbaz
  • ... wurde 1961 in Casablanca, Marokko, geboren. Als Kind emigrierte er mit seiner Familie in die Nähe von Tel Aviv; seine Mutter war Malerin, sein Vater besaß einen Frisiersalon.  Schon mit fünf Jahren wurde Zeichnen die liebste Beschäftigung des kleinen Alber.
  • ... zog 1985 mit 800 Dollar in der Tasche nach New York, um seine Modekarriere zu starten. Dort war er für sieben Jahre Assistent des legendären US-Designers Geoffrey Beene.
  • ... startete 1996 seine Karriere als Designer bei Guy Laroche. 1998 ernannte Pierre Bergé ihn zum Creative Director der Damenlinie von Yves Saint Laurent. 2001 begann er seinen Triumphzug bei Lanvin, dem ältesten noch existierenden Modehaus von Paris. Wegen Uneinigkeit zur künftigen Ausrichtung der Marke verließ er Lanvin im Jahr 2015.
  • ... lancierte 2020/21 mit dem Luxuskonzern Richemont (Cartier, Chloé, Montblanc u.a.) sein eigenes Modelabel AZ Factory. Zum Start wurde während der Couture im Januar ein 20-minütiger Film voller Beispiele für Modeprodukte gelauncht: attraktive Stretchkleider in vielen Farben aus Hightech-Shapinggewebe, das die Körperkontur optimiert; farbige Blazer; Pyjama-Anzüge; Modeschmuck und die „Pointy Sneaks“, Sneaker mit Pumpsspitze, die das Bein optisch verlängern. All das erscheint nun nach und nach im Webshop von AZ Factory und auf diversen globalen Shopping-Plattformen. Stay tuned.