Als ich vor einigen Tagen einen Artikel mit der überraschenden Schlagzeile „Görlich will mit Hertha bald Europa angreifen“ las, traute ich meinen Augen kaum und bekam sofort ein Déjà-vu. In dem Text ging es darum, dass Herthas neuer Geschäftsführer, der 58-jährige Sportwissenschaftler Dr. Peter Görlich, nach hundert Tagen im Amt mit einer „Hammeraussage“ (Bild-Zeitung) für Aufmerksamkeit sorgte. In einem Interview mit RBB-Reporter Dennis Wiese sagte Görlich auf die Frage, wo er Hertha in fünf Jahren sehe: „Ich sehe Hertha als soliden Bundesligisten, der auch immer wieder an europäische Wettbewerbe anklopft!“
Europa liegt in weiter Ferne
Gut, in fünf Jahren ist alles möglich. Ziele zu formulieren und Visionen zu haben, ist immer eine positive Sache. Sie motivieren auch einen Klub wie Hertha BSC mit seinen vielen Mitarbeitern. Mich irritierte nur der Zeitpunkt der mutigen Aussage. Die Mannschaft hatte gerade gegen den damaligen Tabellenletzten der Zweiten Liga, den 1. FC Magdeburg, im Olympiastadion mit 0:2 verloren und kurz nach dem Interview beim 3:3-Unentschieden beim anderen „Kellerkind“, der SpVgg Greuther Fürth, zwei wichtige Punkte im Kampf um den Aufstieg verspielt. Europa ist im Moment ganz weit weg. Und auch die Spitzengruppe der Liga ist nicht sofort „zu greifen“ für das Team von Cheftrainer Stefan Leitl.
Als langjähriger Begleiter der Hertha habe ich viele teils großspurige Ankündigungen und Zielstellungen platzen sehen wie Seifenblasen. Das beste Beispiel ist Jürgen Klinsmann, der im November 2019 die damals taumelnde Hertha als Trainer übernahm. Der Macher des „Sommermärchens“ der WM 2006 formulierte sofort riesengroße Ziele und hatte dabei natürlich die Millionen von Investor Lars Windhorst im Rücken. Klinsmann sprach vom „spannendsten Fußballprojekt Europas“ und wollte in „drei bis fünf Jahren das Team in die Champions League führen“. Im Januar 2020 wurden fast 80 Millionen Euro in neue Profis investiert, was damals „Winterweltrekord“ auf dem Transfermarkt bedeutete! Klinsmann posaunte: „Den Anspruch, irgendwann mit den Bayern auf Augenhöhe zu sein, darf man doch haben.“ Nach zehn Spielen (3 Siege, 3 Remis, 4 Niederlagen) hatte Klinsmann aber die Lust verloren und verließ Hertha durch die Hintertür.
Große Worte, große Visionen gab es auch wieder im März 2021. Der frühere Sky-Chef Carsten Schmidt hatte den Klub im Dezember 2020 als Vorsitzender der Geschäftsführung übernommen und stellte sein Strategie-Projekt namens „Goldelse“ vor, die nächsten fünf Jahre betreffend. In einem Interview mit dem Fachmagazin Horizont sagte Schmidt: „Hertha soll Berlin deutschlandweit, aber in Zukunft auch international repräsentieren. Wir wollen die größte Aufholjagd starten, die der deutsche und vielleicht der internationale Fußball je erlebt hat.“ Schmidt verließ den Klub aus persönlichen Gründen im Oktober 2021.
Nur Hoeneß hat es geschafft, sein Versprechen zu halten
Die „Goldelse“ ist längst Makulatur. Nun also Dr. Görlich. Herthas neuer Boss ist fachlich breit aufgestellt und ein meinungsstarker Mann klarer Worte. Er schaut nach vorn, treibt an und ist ein Realist mit Visionen. Sein Credo: „Alle müssen Lust auf Leistung haben!“ Mir scheint, dass seine Ziele tatsächlich irgendwann Wirklichkeit werden könnten.


