Wohin bloß mit der überbordenden Freude? Steph Catley hatte sich für einen Sprint an die Seitenlinie entschieden; in Richtung dieser dreistöckigen Tribüne, von der einst eine ganz andere Sportheldin Australiens bejubelt worden ist. Was einst die 400-Meter-Ikone Cathy Freeman hier schaffte, das gigantische Stadion im Olympic Park von Sydney in Ekstase zu versetzen, ist nun auch einer Fußballerin gelungen. Dass es eine zähe Angelegenheit war, ehe Co-Gastgeber Australien den 1:0-Zittersieg gegen den tapferen WM-Neuling Irland eingefahren hatte? Geschenkt! „Es war eine Menge Druck da, aber ich bin stolz, wie wir diese Aufgabe bewältigt haben“, meinte die in Melbourne geborene Matchwinnerin hinterher. Catley kam aus dem Grinsen gar nicht mehr heraus.
Warum bitte war erst vor zwei Tagen die Olympiasiegerin Freeman ins Camp der „Matildas“ ins Queensland Sports & Athletic Centre von Brisbane gekommen? Um als Vertreterin der Aborigines ihre verbindenden Erfahrungen weiterzugeben, damit diese auch heute noch eine Inspiration sein mögen. Die 50-Jährige als Vertreterin der Aborigines habe eine bewegende Rede von zeitloser Gültigkeit gehalten, hatten die australischen Spielerinnen bereits am Vortag berichtet. Offenbar sichtlich beeindruckt von der Botschafterin der Ureinwohner.
Eine passende Inszenierung mit einer vollen Prise Patriotismus
So wie die Leichtathletik-Legende das Gesicht der Sommerspiele 2000 war, bleibt nun erst mal Catley als erste Torschützin Australiens dieser im Winter ausgespielten WM 2023 im Gedächtnis. Eine passende Inszenierung, an die sich der fünfte Kontinent gerne mit einer vollen Prise Patriotismus erinnert. Wenn etwas in der sportverrückten Nation besonders zählt, dann solche Storys, die das riesige Land zusammenhalten.
Ein Elfmeter, den Marissa Sheva mit einem ungeschickten Schubser gegen Hayley Raso verursacht hatte, machte die Erlösung nach einer schleppenden ersten Halbzeit möglich: Danach schnappte sich die 29-jährige Catley die Kugel, um sie mit exakt 90 Stundenkilometer in den Giebel zu jagen (52.). „Ich habe einmal tief Luft geholt und da hingeschossen, wo ich hinschießen wollte“, erzählte die Abwehrspielerin vom FC Arsenal. Insgesamt spielte die Heimelf beileibe nicht wie ein Titelanwärter, das wusste auch der Nationaltrainer Tony Gustafsson. „Wir hatten einen physisch starken Gegner. Nach der Führung sind wir leider nervös geworden. Am Ende war es ein Sieg der Mentalität“, sagte der Schwede.
Schon das Abspielen der Nationalhymne löste in dem weiten Rund Gänsehautgefühle aus. 75.784 Fans bedeuteten die nächste Rekordkulisse für australische Fußballerinnen. Dass nach einer Schweigeminute wegen des Attentats in Neuseeland auf den Rängen lange ziemlich ruhig blieb, hatte Gründe: Ausgerechnet die Starstürmerin Sam Kerr hockte an diesem besonderen Abend traurig in einer Wärmejacke auf der Ersatzbank. Die Torjägerin meldete sich mit einer im Abschlusstraining erlittenen Wadenverletzung ab. „Ich wollte dies mit allen teilen, damit es keine Ablenkung von dem gibt, was wir hier erreichen wollen“, schrieb die 29-Jährige, die auch fürs zweite Gruppenspiel gegen Nigeria (Donnerstag 12 Uhr/ZDF) ausfällt.
Ohne Sam Kerr herrscht bei Australiens Fußballerinnen lange Flaute
Ohne die Identifikationsfigur herrschte lange Flaute in der gefährlichen Zone. Zwar stieg der Lärmpegel rasant an, wenn die Heimelf sich nur dem Strafraum näherte, doch dann verrannten sich die Angreiferinnen Caitlin Foord und Mary Fowler wiederholt. Sie habe in der Kabine trotzdem ihren Spirit als Leaderin eingebracht, verriet Catley: „Wenn eine der besten Spielerinnen der Welt ausfällt, kann das einem das Herz brechen, aber sie hat uns geholfen.“


