Es ist durchaus unüblich, dass ein leibhaftiger Fußball-Bundestrainer sich vor dem Training höchstpersönlich aufmacht zur Medientribüne, um den dort im Herbstwind ausharrenden Reportern zu erläutern, dass sie an diesem ganz besonderen Tag nicht nach einer Viertelstunde weggeschickt werden, sondern der Übungseinheit der Nationalmannschaft bis zum Schluss beiwohnen dürfen. Hansi Flicks Erlaubnis war der Tatsache geschuldet, dass aus gegebenem Anlass sämtliche der rund 500 Angestellten des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) eingeladen worden waren, dem ersten Training einer deutschen Männer-Nationalmannschaft auf dem Gelände des neuen Campus beizuwohnen. Da durften die Journalisten natürlich nicht schlechtergestellt werden.
Oliver Bierhoff, der Vater des 150-Millionen-Euro-Projekts auf der ehemaligen Frankfurter Galopprennbahn, hockte derweil in einem Meeting – mit Fensterfront zum bestens präparierten Trainingsplatz. Dafür gibt es ja jetzt einen eigenen DFB-Greenkeeper, der seinen Job augenscheinlich versteht. Genauso hat es sich der Manager Bierhoff vorgestellt: zufriedene Spieler (Joshua Kimmich: „Der Rasen ist sehr sehr gut“), zufriedene Mitarbeiter, die zur Feier des Tages sogar mit Currywurst und Pommes beschenkt wurden, und am Ende des Tages nur ein paar zahm grantelnde Journalisten: Es gibt zu wenige Steckdosen im neuen Presseraum.
Häme von Niklas Süle
Auf dem Geviert war es zuvor zur dualen Vorbereitung auf zwei Spiele der Nations League und die alsbald stattfindende WM in Katar ganz schön zünftig zugegangen. Jamal Musiala musste nach einer Kollision mit Thomas Müller mit einem Verband um die Wade vorzeitig in die Großraumkabine schlurfen, gab aber bald Entwarnung: nichts Schlimmes passiert.
Musiala und Müller gehören gemeinsam mit Kimmich, Leon Goretzka, Manuel Neuer, Serge Gnabry und Leroy Sané zur ein wenig zerzaust aus München angereisten Reisegruppe. „Man ärgert sich schon brutal“, beschrieb Kimmich nach getaner Trainingsarbeit die magere Ausbeute der vergangenen Bundesligawochen. Vom zum BVB übergewechselten alten Kumpel Niklas Süle habe es schon entsprechend Häme und Spott gegeben: „Der Niki kommt jetzt rausgekrochen.“ Kimmich sucht gerade nach Wegen, das mit Humor zu nehmen. Aber es fällt ihm als bekanntermaßen stets Getriebenem natürlich schwer.
Bierhoff spürt „bei dem einen oder anderen“ gar „Wut im Bauch“ und meint damit auch die verkorksten Turniere 2018 und 2021. Sollte diese Wut bei den Spielen am Freitag in Leipzig gegen Ungarn (20.45 Uhr, ZDF) und am Montag in London gegen England (20.45 Uhr, RTL) sorgsam kanalisiert werden, wäre das Flick nur allzu recht. Der Chefcoach möchte nämlich aus der nicht ganz unkomplizierten Gruppe mit dem derzeitigen Tabellenführer Ungarn, England und Italien als Sieger hervorgehen.
Das wäre „ein Statement“, erläutert Bierhoff und sieht dabei hoffnungsfroh aus. Dem DFB-Team würde dieses Statement ein Final-4-Turnier im kommenden Juni gegen große Gegner bescheren, was deshalb hilfreich wäre, weil die Mannschaft nach der WM in Katar keine weiteren Pflichtspiele mehr im Programm hat. Sie ist nämlich als Gastgeber automatisch für die EM 2024 qualifiziert.
Kimmich ärgert sich nicht von ungefähr
Und natürlich auch für die allgemeine Grundstimmung im Vorlauf des umstrittenen Turniers im Wüstenemirat (20. November bis 18. Dezember) wären zwei Siege eine schöne Sache. „Man kann viel erzählen“, sagt Flick und spricht dabei den Bayern-Profis aus dem Herzen, „wenn die Ergebnisse nicht stimmen, sinkt irgendwann die Überzeugung. Deshalb macht ein 2:1 im Vergleich zu einem 1:1 einen großen Unterschied.“ Flick weiß, wovon er spricht: Nach vier 1:1-Remis gegen die Niederlande, Italien, England und Ungarn in Folge war im Sommer schon leises Murren zu vernehmen gewesen. Nicht so laut wie derzeit in München natürlich, wo der allgemeine Aggregatzustand aller Beteiligten immer noch ein bisschen aufgeregter erscheint.
Flick wirkt seit Übernahme des Bundestraineramtes und mittlerweile 13 Spielen ohne Niederlage ohnehin ja meistens so, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen. Der 57-Jährige macht sich ob der aktuellen Bayern-Malaise und einer lediglich einwöchigen Vorbereitungszeit Mitte November auf die Weltmeisterschaft „keine Sorgen“, auch deshalb, weil die meisten seiner Auserwählten aus Topvereinen kommen, „in denen ein ähnlicher Fußball gespielt wird wie bei uns“.
Der Bundestrainer erinnert im SZ-Interview an den WM-Titel 2014: „Da war Peps Fußball bei Bayern auch nah dran an dem, was wir bei der Nationalmannschaft wollten. Und was Julian Nagelsmann jetzt bei den Bayern macht, ähnelt unseren Ideen ja auch. Das erleichtert einiges.“ Auch Kimmich verweist ausdrücklich auf „ähnliche Prinzipien“ bei den Bayern und im Nationalteam.


