Berlin

Ralf Schenk zum 70. Geburtstag des Dokumentaristen Günter Jordan: Selber denken, selber sehen

Im Jahr 1979 dreht Günter Jordan "Berlin - Auguststraße": Beobachtungen in einer Schule, mitten in einer Arbeitergegend. Die Kinder erfrischend offen und widerspenstig; ein junger Lehrer, der die Schwingungen in der Klasse erspürt, darauf eingeht, Widersprüche zur Diskussion stellt. Der Filmverleih Progress ist mit dem Film sichtlich überfordert, man müsse sich zu sehr anstrengen, den Berliner Originalton zu verstehen, heißt es als Begründung für den eher lieblosen Kinoeinsatz. Jordan, der selbst als Lehrer begonnen hatte, bevor er Regie studierte, lässt sich das nicht zweimal sagen. Er packt die Filmrollen, reist damit von Filmclub zu Filmclub, von Schule zu Schule, durch die ganze DDR. Überall lebhafte Gespräche. Was bedeutet es, Lehrer zu sein? Wie kommen individuelle Freiheit, Disziplin und Pflicht zu einander? Was heißt es, jeden Einzelnen ernst zu nehmen, ihm Raum zu geben für seine Haltungen, Hoffnungen, auch Sorgen und Schmerzen. "Berlin - Auguststraße" wird zum Sinnbild für einen besseren Sozialismus.Wegen solcher Filme, da ist sich Günter Jordan noch heute sicher, lohnte es sich, Regisseur geworden zu sein. Im Alltag etwas Visionäres entdecken, so wie es Maxie Wander in ihrer Literatur vermochte ("Eine Stadt wird gebor'n wie ein Kind", 1976) oder die Band Pankow in ihrer Rockmusik. In Jordans Film "Einmal in der Woche schrein" (1981) wird eine ihrer Textzeilen zitiert: "Immer um Erlaubnis fragen, gibt's denn gar nichts mehr zu wagen, wer will an der Leine geh'n, ich will selber denken, selber seh'n." Die kleine Studie über Halbwüchsige in Prenzlauer Berg, über ihre Lust zu tanzen, zu quatschen, zu küssen, ganz ohne FDJ, wird verboten; erst 1989 kommt sie heraus. Da hat Jordan längst einige andere wichtige Arbeiten gedreht, die selbst auferlegte Aufgabe angenommen, "einseitig besetzte und weiße Flecke in der Geschichte" aufzuhellen. Zum Beispiel das Leben des Revolutionärs Max Hoelz zu befragen, der in der DDR allzu lange nur als Anarchist entsorgt worden war.Günter Jordan, der am vergangenen Montag seinen 70. Geburtstag feierte, drehte seine wichtigsten Filme, schrieb seine schönsten Texte immer dann, wenn er gegen den Strom des Vergessens arbeitete. Das Verschweigen von historischen Tatsachen und Zusammenhängen, aber auch das allzu schnelle, ungeprüfte Urteil über Menschen und geschichtliche Abläufe führten bei ihm oft zu produktivem Zorn. Was wurden nicht alles für Halbwahrheiten zur Frühgeschichte der Defa verbreitet, zu DDR-Zeiten und später auch? Jordan räumte damit auf, indem er klug recherchierte Porträts vergessener Defa-Pioniere verfasste: über Alfred Lindemann, Walter Janka, Falk Harnack, den Wiener Hugo Hermann. Brennend interessierte ihn der Lebensweg des Moskau-Emigranten und zeitweiligen DDR-Filmministers Anton Ackermann, der schon früh aus dem inneren Zirkel der Macht ausgestoßen worden war. Jordan untersuchte, was Stephan Hermlin als Filmautor leistete, folgte den Spuren von Joris Ivens. Zuletzt publizierte er ein dickes Werk "Film in der DDR. Daten, Fakten, Strukturen", das Ergebnis von nahezu zwei Jahrzehnten Grundlagenforschung, so exakt wie nur irgend möglich. Für Historiker, Filmwissenschaftler und interessierte Laien ein Kompendium von unschätzbarem Wert.Wir haben auch gemeinsam an dem einen oder anderen Buch gesessen, und oft habe ich Günter Jordan angerufen, wenn ich mit einem Detail nicht weiterkam. Er hat geholfen, wo er konnte, selbst wenn er dafür stundenlang in seinem Kleinmachnower Archivkeller stöbern musste. Zugegeben, dass ich als Redakteur ihn manchmal verflucht habe, wenn er in der letzten Sekunde vor Drucklegung eines Aufsatzes mit fünf neuen Fußnoten ankam, die für ihn mindestens so wichtig waren wie Hunderte andere. Im Grunde genommen hat er seine Forschungen nie mit dem letzten Wort eines Textes beendet, sondern, wie bei einer Matrjoschka, aus dem großen Ganzen immer noch Dutzende weitere Themen gezaubert, die es fortan zu bearbeiten galt. Möge ihm der Stoff nie ausgehen! Und das seltene Können, über Kino und Geschichte so spannend und unterhaltsam zu publizieren wie bisher.------------------------------Foto: Schreibt spannend über Kino und Geschichte: Günter Jordan.