Philosophische Kolumne

Wie wir zueinanderfinden

Betrachten wir einmal genau, was die Ansteckungsangst mit uns angestellt hat. Dann zeigt sich ein einfacher Weg der Versöhnung, den jeder gehen kann.

Michael Andrick, Kolumnist der Berliner Zeitung.
Michael Andrick, Kolumnist der Berliner Zeitung.Karolina Kovac

Wir sehen die Verletzungen, die wir einander seit langer Zeit bereiten: Diskriminierung, Einschüchterung, die Unterstellung böser Absicht oder des blanken Wahnsinns.

Und die meisten sind sicher, dass sie selbst an diesen Verletzungen unschuldig, dass sie nicht Täter, sondern Leidtragende sind. Ich zum Beispiel neige zu solchen Gedanken: „Ich bin in dieser Krise ein wohlmeinendes, fast machtloses Opfer der Täter X, Y und Z.“ Denken Sie von sich etwas wirklich anderes?

So klar wir die Kosten des „Kampfes gegen das Virus“ und unsere Unschuld erkennen, so klar sehen wir auch: Wir müssen uns am Ende mit denen versöhnen, die wir „Opfer“ als „Täter“ sehen.

Denn wir selbst erklärten Opfer leben mit Tätern: Sie sind Politiker „meiner“ Partei, Freunde, Lehrer unserer Kinder, Journalisten unserer Zeitung. Sie sind unsere Verwandten. Vielleicht ist man selbst nach zwei Jahren Staatswillkür durch Meinungswandel für andere vom Opfer zum Täter (oder umgekehrt) geworden. Auch der Selbstumgang kann heikel werden. Und was jetzt?

Auf dem Boden der Angst

Treten wir einander auf die Füße, so wissen wir immerhin, dass wir am selben Ort sind: Wir stehen zusammen auf dem Boden der Angst, und wir spielen miteinander die Spiele unserer Furcht (die nicht dasselbe ist wie Angst).

Ein Kapital wird geboren

Von Michael Andrick

11.01.2022

Angst ist unkonkret: Sie führt ins mentale „Gefängnis der Vergangenheit oder der Zukunft“ (Thich Nhat Hanh), in lähmende Grübelei über Vergangenes und vielleicht Kommendes. Angst vor einem Atemwegsvirus, das schwebt und scheinbar überall „lauern“ kann, ist ein tückischer Spezialfall von Angst.

Denn sie scheint auf den ersten Blick (und wer wirft den zweiten und dritten?) für alle Situationen des Alltags relevant und lässt sich somit schlecht situativ in eine konkrete Bedrohungsvermutung (Furcht) übersetzen. Nur so kommen wir aber ins Handeln und sind der Angst nicht mehr ausgeliefert.

Nicht so ganz Deutschland

Von Michael Andrick

16.11.2021

Befürchtungsregimente

So sind die gleichzeitig stets ungleichartigen Verordnungen der 17 deutschen Regierungen psychologisch zu verstehen. Und auch das, was wir in den letzten zwei Jahren taten.

Wer von der amtlichen Ansteckungsangst angesteckt ist, formuliert seine situativen Befürchtungen, denen er handelnd begegnet: Kontakte werden beschränkt, Routinen abgeändert. Wer keine Ansteckungsangst hat, muss dennoch auf die der anderen reagieren. Ich zum Beispiel habe eine drückende Angst vor den Folgen der Infektionsangst für die Welt, meine Gesellschaft und vor allem für meine Kinder. Die entsprechenden Befürchtungen leiten mein Handeln.

Fatalerweise wird derjenige, der die je eigenen Befürchtungen nicht teilt, selbst zum Furchtobjekt: Er durchkreuzt meine Angstbewältigung!

Der gemeinsame Nenner

Wie auch immer wir mit der in den Raum gestellten Angst umgehen, wir haben das Entscheidende gemeinsam. Und deshalb können wir uns auch versöhnen.

Unter Angst sind unsere Befürchtungen dominant, unsere Absichten gut und unsere Handlungen gewissenhaft; auf Störungen reagieren wir empfindlich. Denn unter Angst schützen wir mit aller Kraft, was wir lieben. Nichts ist menschlicher.

Das einte uns über alle Differenzen hinweg, und das eint uns heute und in Zukunft: Der Wille, das Richtige zu tun, wo es einmal darauf ankommt. Das müssen wir bei uns selbst und beim andern sehen und würdigen. Erzählen wir einander davon, wie wir das versucht haben. Dann werden wir wieder zueinanderfinden. Sprechen Sie Opfer mit Ihren Tätern darüber.

Michael Andrick ist Philosoph mit langer Berufserfahrung in der Wirtschaft. Sein Buch „Erfolgsleere“ ist eine Gegenwartsdiagnose der Industriegesellschaft, die eine Erklärung für massenweisen, fraglosen Konformismus bietet.