Kolumne von Götz Aly

Steinmeiers große Rede zum 22. Juni

Anders als alle seine Vorgänger erinnerte der Bundespräsident erstmals und genau an die ungeheuren deutschen Verbrechen im Krieg gegen die Sowjetunion.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besucht anlässlich des 80. Jahrestags des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion die Ausstellung „Dimensionen des Verbrechens“ im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besucht anlässlich des 80. Jahrestags des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion die Ausstellung „Dimensionen des Verbrechens“ im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst.dpa/Jörg Carstensen

Das gab es noch nie: einen Bundespräsidenten, der den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion glasklar beschreibt. Frank Walter Steinmeier sprach über Millionen ermordeter Kriegsgefangener, die Vernichtung Tausender Dörfer, das Aushungern sowjetischer Großstädte. Er mied das Verharmlosungsgeschwätz, mit dem die Schuld auf „DIE Nationalsozialisten“ abgewälzt wird, und sagte: „Es lastet auf uns, dass es unsere Väter, Großväter und Urgroßväter sind, die an diesen Verbrechen beteiligt waren. (…) Es lastet auf uns, dass wir den Opfern viel zu lange die Anerkennung verwehrten.“

Einer meiner Großväter war wehruntauglich, der andere hatte 1914 bis 1918 als Batteriechef die französischen Linien beschossen. Als 60-jähriger Hauptmann meldete er sich 1941 freiwillig. Drahtig, wie er war, gelangte er bis zu den westlichen Straßenbahnhaltestellen Moskaus. Doch im Winter 1941/42 wurde er altershalber zurückbefohlen. Ich erinnere mich an seinen Kommentar: „So konnten wir den Krieg natürlich nicht gewinnen.“

Mein Sportlehrer Rümelin befand, „der Krieg war das Reiseunternehmen des kleinen Mannes“; Heinrich Böll schrieb 1943 an seine Eltern: „Ich denke oft an die Möglichkeit eines kolonialen Daseins hier im Osten nach einem gewonnenen Krieg.“ Mein Onkel Fritz filmte für die Wochenschau und flog von einem Frontabschnitt zum anderen. Viele Bildsequenzen stammen von ihm, nicht die Texte. Er flüchtete sich hernach in unendliche Witzeleien. Doch einmal sagte er das: „Ein Vorbild für die nächste Generation können wir nicht sein.“

Mein Vater quittierte den Wehrdienst im Infanterie-Regiment 12 (Halberstadt) 1937 als Leutnant d.R. Erst Ende 1942 wurde er eingezogen. Schon in der Gießener Sammelkaserne erfuhr er, „dass in Russland Leute selber ihr Grab schaufeln müssen und dann erschossen werden“. Nahe Orjol (Kursker Bogen) übernahm er eine stark dezimierte Einheit. Im Januar 1943 kommandierte er sein erstes und letztes Gefecht. Brennendes Dorf, Nahkampf: Seine Leute bringen zwei gefangene Russen. Er: „Sperrt die in den Keller da!“ Die ostfronterfahrenen Landser erwidern: „Wieso? Die hauen wir hier auf den Nüschel!“ Wenig später lag mein Vater schwer verwundet am Boden. Im hohen Alter dement geworden, bewachte ich seinen wild verwühlten Schlaf. Da erst, von den Furien des Krieges gejagt und gemartert, brach es laut aus ihm heraus: „Feuer! Kinder brennen! Schüsse! Schreie!“

Mit seiner Rede rief Frank Walter Steinmeier solche Erinnerungen wach. Mit Recht überging er angesichts der heutigen politischen Lage das Thema „Putins Russland und einstige Sowjetrepubliken“. Dennoch bleibt es zum Verständnis der Gegenwart wichtig: Hitler und seine Generäle wollten den „riesenhaften Kuchen“ Sowjetrussland „handgerecht zerlegen“ und die verschiedenen Völkerschaften gegeneinander aufhetzen, nicht ohne Erfolg. Die Großrussen, „die Moskowiter“, wollten sie „hinter den Ural“ treiben und Moskau „ausradieren“. Die Bereitschaft zur Kollaboration war im Westen der Sowjetunion stark, im Osten schwach.

Was mögen junge Russen von heute denken, wenn sie von Deutschen als Angehörige einer bösen „eurasischen Macht“ (FAZ, 16. Juni 2021) gebrandmarkt werden? Ich finde, wir sollten ihnen zurufen: Euer Land und die seit 1918 auf dem Boden des alten Russischen Reiches entstandenen Staaten gehören zu Europa – geschichtlich und kulturell.

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