Es gibt Lieder, die ich in Dauerschleife höre. Seit Beginn unserer Reise ist das „Latinoamérica“ der puerto-ricanischen Gruppe Calle 13. Das Lied besingt die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Südamerikas – eines Kontinents, der durch den Raubbau des Globalen Nordens geprägt ist. Das sind vor allem die Vereinigten Staaten und Europa. Denn unser Konsum, unser Dreck und unsere Privilegien beeinflussen das Leben der Menschen hier. Calle 13 ist stolz auf das, was daraus gewachsen ist – trotz aller Widrigkeiten. Das ist nicht leicht, denn die Folgen des Raubbaus finden sich an jeder Straßenecke.
Wir sind in Argentinien. Das Riesenland am südlichen Zipfel des Kontinents kämpft aktuell mit einer Inflation von 100 Prozent. Dagegen scheinen die acht Prozent in Deutschland winzig. Die Folgen sehen wir überall. Es gibt 15 (!) verschiedene Umtauschkurse zum US-Dollar: Der offizielle Kurs bringt nur etwa die Hälfte des Schwarzmarktkurses; auf dem sind alte Dollarnoten aber weniger wert als neue. Es scheint eine Logik ohne Sinn, aber mit System. Wir brauchen Zeit, um das zu verstehen. Immer wieder fragen wir uns, wie viel die Dinge wirklich kosten, und hinterfragen letztlich den Wert des Geldes selbst.
Am Ende bezahlen wir alles in bar – Hotels, Flüge, Bustickets – denn unsere Kreditkarte berechnet den offiziellen Kurs, und der ist schlecht. Wir tragen also dicke Bargeld-Bündel durch Buenos Aires – fein säuberlich versteckt unter unseren Winterjacken bei dreißig Grad im Schatten. In der Millionenmetropole sorgt das für Bauchkribbeln, fällt aber weniger auf als befürchtet – Winterjacken liegen im Trend. Letztlich geht alles gut, und wir sind um eine amüsante Reiseanekdote reicher. Für die Menschen hier ist es ihr Leben, sie haben viele solcher Anekdoten. Allerdings bleibt ihnen das Lachen nicht selten im Halse stecken.
Uruguay ist Argentinien um einiges voraus: Stabile Preise, keine bettelnden Kinder
In Montevideo, der Hauptstadt Uruguays, treffen wir Freunde meines Mannes. Mit ihnen laufen wir durch die Stadt, gehen essen und teilen Geschichten. Uruguay, erzählen sie, sei Argentinien um einiges voraus: Die Wirtschaft und Preise seien stabil, und die Sozialprogramme der letzten Jahrzehnte zahlten sich aus. Wir sehen keine bettelnden Kinder und laufen (relativ) sorglos durch die Straßen. Dennoch sei das größte Sozialproblem des Landes Armut. Das heißt, auch in Montevideo – wie in allen Großstädten Südamerikas – gehören Slums zum Stadtbild der Vororte.
Das ist nicht schön, aber diese Reise lehrt uns immer wieder: Armut bedeutet mehr als das Wachsen von Slums oder das Fehlen von Geld. Armut heißt, nicht zu zählen. Sie frisst sich durch alle Winkel menschlichen Lebens. Sie bedeutet verstümmelte soziale Beziehungen, verfallene Straßen, zerstörte Natur, schlechte Gesundheit, Dreck und Müll. Armut riecht und dieser Geruch bleibt in den Poren stecken.


