Wenn ich versuche, mit meinen der Zukunft zugewandten politischen Freunden über die guten alten Zeiten in West-Berlin und die Folgen unserer Multikulti-Doktrin und die ihr innewohnende falsche Toleranz zu sprechen, ernte ich Entrüstung. Ich liefere „den Nazis“ Futter, heißt es. Damit ist man in diesen Kreisen entwaffnet; wer will schon Steigbügelhalter der Partei sein, die keinesfalls eine Alternative für Deutschland ist? Neulich holte ich mir Verstärkung, indem ich den FAZ-Kollegen Jasper von Altenbockum ins Feld führte, der nach Friedrich Merz’ verunglückten, durchaus rassistischen Anwürfen bezüglich des „Stadtbilds“ über unsere „Lebenslügen der Einwanderung“ kommentiert hatte: „In Deutschland diente ‚Multikulti‘ als Gegenentwurf zum Nationalstaat, und das konnte vermeintlich nur Gutes und Schönes bedeuten.“
Solche Äußerungen lösen bei Linken Abwehrreflexe aus. Na klar, die FAZ! Aber inzwischen findet sich Kritik an der nachlässigen und verantwortungsvergessenen Migrationspolitik auch in hochmoralischen Häusern wie dem Wochenblatt Die Zeit, wo Mariam Lau den Kanzler lobte: „Die Christdemokraten schalten in den Kampfmodus. Endlich.“ Schluss mit „Friedhofsruhe“, mit „Bräsigkeit“, Schluss mit irregulärer Flucht, Schluss mit dem „Schuldgefühl“ wegen des „Kontrollverlusts“ von 2015.
Vom Stolz, den eine Mehrheit der Deutschen mit Angela Merkels humanitärer Entscheidung („Wir schaffen das!“) empfand, ist tatsächlich nur noch wenig zu hören. Heute stimmen laut ZDF-Politbarometer fast zwei Drittel der Deutschen der Behauptung oder Feststellung des Bundeskanzlers zu, dass es Probleme mit Migranten gebe, die keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus haben, nicht arbeiten und gegen Regeln verstoßen.

Meine politischen Freunde haben bisher über das, was nicht nur Merz sieht, meist geschwiegen. Inzwischen zeigen sie Trotz und vergleichen den Kanzler mit NS-Propagandaminister Joseph Goebbels, der über Juden als „Parasiten“ gehetzt hatte, die nicht nur „das Straßenbild, sondern auch die Stimmung“ verderben. Merz sprach aber nicht von Juden, auch nicht von „Menschen mit anderer Hautfarbe“, und er will auch nicht „die Fußgängerzonen nur noch für weiße Kartoffeln auf dem Weg zur Arbeit öffnen“, wie eine linke Tageszeitung es verstehen wollte. (Nebenbei: Wann beginnt nichtweiße Hautfarbe? Und ist der Begriff „weiße Kartoffeln“ rassistisch?)
Meine politischen Freunde wollen nicht über Fehler der Migrationspolitik reden, schon gar nicht über solche in ihren jungen Jahren. Sie wollen nicht hören, dass diese Versäumnisse nicht erst 2015 begannen. Nicht hören wollen sie, dass sie (und ich) im Westen in den 1980ern und 1990ern das Programm des Laisser-faire predigten, statt darüber nachzudenken, wie wir den Zuwanderern bei der Integration helfen könnten. Erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt für Asylsuchende? Solche Förderung interpretierten wir damals als Zwang zur Arbeit. Pflicht zum Spracherwerb? Bevormundung! Verpönt war es auch, Einwanderer zu mahnen, sich an die hiesigen Gepflogenheiten zu halten. Das war, als die Union hin und wieder eine „Leitkultur“ durchsetzen wollte, faschistisch und ließ sich nicht mit unseren Vorstellungen von Toleranz vereinbaren. Bunt sollte die schöne deutsche Welt sein, multikulti, farbenfroh und fröhlich wie der wunderbare und friedliche Karneval der Kulturen.
Selbstkritik ist in meinen Kreisen keine Stärke. Über mögliche eigene Versäumnisse schweigt auch heute noch der Singenden Höflichkeit. Toleranz und Laisser-faire waren und sind jedoch leicht mit Ignoranz oder Gleichgültigkeit zu verwechseln. Ignoranz und Gleichgültigkeit sind keine Basis für verantwortungsbewusste Integrationspolitik, eher Abweisung als Einladung. Falsche Toleranz führt zu abgeschotteten Gesellschaften.
Die Folge von Multikulti ist heute manches, was besser nicht gewachsen wäre in diesem Land: Stadtviertel, die selbst die Polizei meidet, Organisierte Kriminalität, Drogenhandel und -kriminalität, religiös begründete Beschneidung der Freiheit und Rechte von Frauen. Aber meine standhaften, selbstgewissen Freunde begegnen dem Kanzler und zwei Dritteln der Deutschen mit den immer gleichen Argumenten und Etikettierungen aus dem vorigen Jahrhundert: Die Kriminalität habe nicht zugenommen, sondern es gebe lediglich mehr Anzeigen, „frau müsse sich in deutschen Städten weiterhin so wenig fürchten wie man“, weil Gewalt gegen Frauen meist in Wohnungen stattfinde.

Fakt ist: Die Zahl der in der Kriminalstatistik unter Gewaltkriminalität registrierten Verdächtigen ist 2024 leicht gestiegen, auf einen Höchststand seit 2007. Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen: plus 0,9 Prozent; Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und sexueller Übergriff: plus 9,3 Prozent; gefährliche und schwere Körperverletzung: plus 2,4 Prozent. Solche Straftaten finden zu 22 Prozent in Wohnungen statt, zu knapp 30 Prozent auf öffentlichen Straßen, Wegen, Plätzen, in „Verkehrseinrichtung/-bereichen“ (9,4 Prozent) und „sonstigen Tatörtlichkeiten“ wie Gefängnissen, kirchlichen Einrichtungen und Friedhöfen sowie Gemeinschafträumen in Häusern (14 Prozent).
Kein Grund, sich zu fürchten? Auffallend ist darüber hinaus eine überdurchschnittliche Beteiligung an Gewaltdelikten bei Zuwanderern. Unter insgesamt 217.277 Fällen weist die Statistik 85.012 nichtdeutsche Tatverdächtige aus, das ist ein Anstieg um 7,5 Prozent. Der Verweis darauf, dass Ausländer häufiger von der Polizei geprüft würden (social profiling), kann im Bereich der Gewaltkriminalität kaum gelten.
Insgesamt werden laut Tatverdächtigenbelastungszahl (Straftaten insgesamt ohne ausländerrechtliche Verstöße) von 100.000 deutschen Einwohnern 1878 straffällig, unter nichtdeutschen Tatverdächtigen 5091 (Verhältnis Männer/Frauen etwa 3:1). Das BKA räumt ein, dass unter Zuwanderern eine größere Zahl von jüngeren Menschen, vor allem Männern, zu finden ist, die stärker von Risikofaktoren betroffen sind, die Straftaten wahrscheinlicher macht. Dazu zählten „neben einer nachteiligen räumlichen und ökonomischen Lebenssituation auch psychische Belastungen, eigene Gewalterfahrungen in der Kindheit sowie positive Einstellungen gegenüber Gewalt“. Das kann man verstehen. Aber das alles hilft denen nichts, die sich von Migranten bedroht fühlen, welche die Polizei und Strafverfolgungsbehörden verspotten, nicht ernst nehmen und nicht für durchgriffsberechtigt halten. Wie können wir den Ängstlichen, den Besorgten, den sich bedroht Fühlenden gerecht werden?
Um es nicht zu vergessen: Auch als Deutsche geborene Männer und Frauen stehlen, sind an der internationalen Organisierten Kriminalität beteiligt, am Rauschgifthandel, an Geldwäsche; auch unter Deutschen ohne Migrationshintergrund gibt es Männer, die Waffen bei sich tragen und vergewaltigen. Das Stadtbild leidet auch unter Männergruppen, die sich auf Marktplätzen breitmachen, Migranten bedrohen und unselige „deutsche Tugenden“ wieder salonfähig machen wollen. Frauen dürfen sich auch durch deutsche Männer bedroht fühlen, nicht nur die unterm eigenen Dach. Zwar steigt unter den Opfern von „Rohheitsdelikten und Straftaten gegen die persönliche Freiheit“ der Anteil der Zugewanderten, aber die Täter sind beileibe nicht nur Zugewanderte. Wahr ist auch, dass die meisten Menschen mit Migrationshintergrund so leben, dass niemand sich vor ihnen fürchten muss, die arbeiten und Steuern zahlen und sich wie „deutsche Spießer“ über zerschmetterte Mate- und Bierflaschen und Hausrat inklusive abgenudelter Matratzen auf den Bürgersteigen in Berlins Mitte empören, den Stadtteil, über dem täglich 24 Stunden stinkende Shitwolken kreisen. Auch das ist Stadtbild. Ugly Berlin.

Wer mit offenen Augen und ohne Ideologiescheuklappen durchs Land geht, wundert sich über die mangelnde Entschlossenheit, Missstände aller Art zu korrigieren, während die Achtsamkeit gegenüber allerlei noch so kleinen Minderheiten wächst. Von den Parteien frustrierte Menschen der Mehrheitsbevölkerung quittieren das inzwischen nicht nur mit Wahlabstinenz wegen Politikverdrossenheit, sondern mit Abwendung wegen Politikverlassenheit. Der Trend ist doch nicht zu übersehen, die Prognose lautet deshalb: Wenn die etablierten Parteien die Sorgen der Mehrheit ignorieren, wird eine andere Partei sich derer annehmen, und zwar auf radikale Weise.
Aber wir können doch nicht wollen, dass eine Partei, die keinesfalls eine Alternative für Deutschland ist, aus engstirniger Prinzipienreiterei nicht nur über Migration, sondern über eine Menge ganz andere Fragen entscheidet: über Kultur- und Wissenschaftsförderung, über Menschen-, Frauen- und Minderheitenrechte, über Pressefreiheit, Europa- und Sicherheitspolitik, Bereiche, in denen sich die etablierten Parteien grundsätzlich weitgehend einig sind.
