Kommentar

Nach Afghanistan: Das Ende der Weltmacht USA?

Für einen Abgesang ist es zu früh: Auch nach Vietnam hatten viele Amerika abgeschrieben. Doch es kam anders.  

US-Präsident Joe Biden
US-Präsident Joe Biden AP

Joe Bidens Worte zum Abzug der Allianz aus Afghanistan klangen wie jene seines Amtsvorgängers Donald Trump: Der US-Präsident sagte, die US-Regierung müsse endlich die „endlosen“ Kriege beenden und sich aus Regionen der Welt zurückziehen, in denen sie keine nationalen Interessen zu verteidigen hätten.

Wenige Stunden später, nach einem Selbstmordanschlag in Kabul, klang das allerdings wieder ganz anders: Man werde die Feinde Amerikas jagen und zur Strecke bringen, wo immer sie sich befinden. Kurz darauf gab das Pentagon bekannt, man habe mit einer gezielten Tötung über Drohnen zwei „Ziele ausgeschaltet und eines verwundet“. Von zivilen Opfern sei nichts bekannt.

Die BBC berichtete, dass der Drohnenangriff, der zwei Personen des „IS-K“, offenbar eine neue Untergruppe des Islamischen Staates (IS) gegolten haben soll, sehr wohl zivile Opfer gefordert habe. Belege gab es nicht, weder für die eine noch für die andere Aussage.

Die Sequenz der Ereignisse zeigt, dass die endlosen Kriege offenbar nicht so einfach zu beenden sind, wie sich das manche wünschen. In der Washington Post schreibt der Historiker Samuel Moyn von der Yale-Universität, dass die endlosen Kriege immer weitergehen würden, wenngleich in anderer Form. Waren es früher reguläre Truppen, so würden Kriege künftig mit ferngesteuerten Drohnen, Spezial-Kommandos und Raketen aus sicherer Entfernung geführt.

Tatsächlich ist diese Art der Kriegsführung heute schon gängige Praxis: Friedensnobelpreisträger Barack Obama genehmigte zehnmal mehr Tötungen als der Kriegs-Präsident George W. Bush. Donald Trump steigerte den Einsatz dieser angeblichen Präzisionswaffen noch einmal um ein Vielfaches. Das Magazin Foreign Affairs berichtet, dass die Amerikaner nach dem Abzug aus Afghanistan neue Orte für die Stationierung von Drohnen einrichten würden: Neben Pakistan sind auch Stützpunkte am Persischen Golf im Gespräch.

China, so ist beim Magazin Foreign Policy zu lesen, solle sich nicht zu früh über das Afghanistan-Debakel der USA freuen. Das Land sei wegen seiner Unterdrückung der Uiguren, die laut westlichen Medienberichten in Zwangslagern umerzogen werden, ein Ziel für Anschläge aus dem islamistischen Segment. Wer sich in diesem Bereich durchsetzen wird, ist unklar und verwirrend – selbst für die US-Geheimdienste. So schreibt Foreign Policy in einem Artikel, dass die Taliban und der IS entgegen der öffentlichen Wahrnehmung eng kooperieren würden.

In einem anderen Artikel schreibt dasselbe Blatt, dass die Taliban das Land nicht beherrschen könnten, weil der IS durch Anschläge wie jene auf den Flughafen Kabul alle Bemühungen der neuen Regierung um ein stabiles Afghanistan zunichtemachen würde. Es ist also den Experten selbst nicht klar, wer hier gegen wen kämpft, wer Freund und wer Feind ist.

Die unklare Gefechtslage hat dazu geführt, dass sich Biden in seiner jüngsten Abzugsrede zwar ausdrücklich vom Demokratie-Export und dem „nation building“ losgesagt hat. Doch im selben Atemzug sagte der Präsident, die Regierung in Washington behalte sich vor, stets überall und jederzeit im Namen der „Terror-Bekämpfung“ auch militärisch tätig zu werden.

Er setzt damit den Kurs seiner Vorgänger fort. Vor dem Hintergrund der militärischen und finanziellen Stärke der Vereinigten Staaten stellt sich daher die Frage, ob das Scheitern des konventionell gestützten Krieges in Afghanistan automatisch einen Machtverlust Washingtons in der Welt bedeutet. Foreign Affairs verweist auf die Folgen des Vietnam-Desasters: Der desaströse Abzug aus Saigon habe den USA nicht nachhaltig geschadet. Mit dem Ende des Vietnam-Krieges hätten die USA in Indonesien, Malaysia, den Philippinen, Singapur und Thailand ihr genehme Regierungen installiert und daher im asiatischen Raum dauerhafte Verbündete gewonnen. Wie sich das im zentralasiatischen Raum entwickeln wird, etwa mit Pakistan, ist noch unklar. Auch das Verhältnis zu Russland ist weiter ungeklärt.

Amerikas Ansehensverlust könnte sich außerdem in Grenzen halten, weil im Zeitalter der Überwachung die Kombination aus totalitärem Staat und technologischer Aufrüstung im Hinblick auf China durchaus abschreckend wirken kann. So gesehen, sitzt Amerikas größter Feind im Land selbst: Um die dominante globale Kraft zu bleiben, müssen die Amerikaner genau jene Werte stärken, die ihren Ruhm nach 1945 begründet haben: Freiheit der Meinung, liberale Gesetze und eine liberale Kultur, eine grundlegende Skepsis gegenüber dem Staat, Gewaltentrennung, Respekt vor dem politischen Gegner, wirtschaftlicher Aufstieg als Möglichkeit für alle und vieles andere mehr.

Doch in all diesen Bereichen steckt das Land in einer tiefen Krise. Kann es diese nicht überwinden, könnte Afghanistan tatsächlich der Anfang vom Ende einer Weltmacht gewesen sein.