Kolumne

Zu alt fürs Steuer? Warum Fahrtests für Senioren nicht so verkehrt wären

Die EU will Fahrtauglichkeitstests für Autofahrer ab 70. Eine Idee, der unser Kolumnist sogar etwas abgewinnen kann.

Ab wann ist es sinnvoll, das Autofahren aufzugeben?
Ab wann ist es sinnvoll, das Autofahren aufzugeben?photobac/imago

Im März fuhr Helmut letztmals mit dem Audi zum Lidl. In einer Rechtskurve seiner Kleinstadt bremste die Kolonne. Bis auf ihn. Blockade im Bein, sagt er, Krampf, keine Ahnung. Um nicht aufzufahren, riss er das Steuer nach links. Hinter der Gegenspur, wo niemand war, und dem Bürgersteig, auf dem keiner ging, stand ein Zaun. Präteritum. Eine Latte durchschlug die Scheibe und verfehlte den Bruchpiloten knapp.

Mein Bekannter ist 84. Lag es daran? Organisch sei er okay, hieß es im Spital. Allerdings war er, bis dahin unfallfrei, kurz zuvor schon einmal karamboliert. Nur Dellen, beim Einparken. Nun, kurz nach dem Totalschaden, erwog er den Rücktritt aus dem Kraftverkehr. Er hätte jemanden verletzen können.

Doch Schock schwindet, und die Vollkasko zahlt. Dem Mann fehlt etwas. Er war beweglich, trotz morscher Knochen. Er musste niemanden bitten, ihm Getränke mitzubringen. Er half anderen. Er hat, zehn Kilometer außerhalb, einen Bungalow am See, der für ihn jetzt kaum mehr erreichbar ist. Er bekommt Ratschläge, wirkt aber gut genug beieinander, um selbst über seine Mobilitätswende zu entscheiden.

Die EU scheint Last von seinen Schultern nehmen zu wollen. Autofahrer über 70, so der Plan, sollen ihre Fahrtauglichkeit regelmäßig nachweisen müssen. Wäre Joe Biden Europäer, er wäre allein wegen seiner schon auf Fußwegen erkennbaren Wegfindungsdefizite die Fleppen los. In Washington darf er nicht nur – womöglich für vier weitere Jahre – das Weiße Haus lenken, sondern unangefochten sogar einen Fiat Panda.

Das Thema ist fast so alt wie der Ottomotor. Der ADAC spricht: Ältere reagieren langsamer, fahren aber vorsichtiger. Auch die deutsche Politik ist gegen Zwangsbegutachtung, vielleicht auch aus Sorge, in den Weiten Vorpommerns könnten mehr Senioren auf kaum existente öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sein. Der Führerscheinrichtlinienentwurf, lese ich, sei altersdiskriminierend. Na ja. Ich reserviere das Wort für Immobilienkundler der Uni Regensburg, die gerade vorschlagen, Witwen so lange die Mieten für ihre großen Wohnungen zu erhöhen, bis sie endlich Platz für frische Familien machen.

Ein Pkw muss alle zwei Jahre zum Tüv. Dabei ist nur ein Prozent aller Unfälle mit Personenschaden auf Fahrzeugmängel zurückzuführen. Das liegt nicht vorrangig an den akribischen Inspektionen. Gleichwohl, ohne Hauptuntersuchungen wäre die Defektopferquote höher. Nur ein paar Prozent, doch die dürften den Aufwand wert sein.

Gelebtes und gefühltes Alter

Von Andre Mielke

22.09.2020

Was die Durchsicht des menschlichen Faktors betrifft, behauptet der Unfallforscher Siegfried Brockmann, das Crash-Risiko von Senioren sei pro Fahrkilometer ähnlich hoch wie das der 18- bis 24-Jährigen. Jugendlicher Leichtsinn lässt sich medizinisch schlecht vorhersagen. Leichter ist die Diagnose von Verfallserscheinungen, die zwangsläufig zu Vorkommnissen führen, die Google für die Suchbegriffe „Gas“, „Bremse“ und „verwechselt“ auswirft.

Mit meinem nächsten runden Geburtstag erreiche ich die EU-Zielgruppe. Es wäre nicht verkehrt, mir dann mein Fahrtauglichkeitsgefühl amtlich bestätigen lassen zu müssen. Zumindest denke ich heute so. Es ist ja noch Zeit. Wahrscheinlich kann ich mir das Auto dann sowieso nicht mehr leisten. Sei’s drum, ich habe, unfassbar, Verständnis für eine Idee aus Brüssel. Für Helmut erst recht. Der war gerade beim Händler, wegen eines Gebrauchten.