Die angesehene israelische Zeitung Haaretz spricht von einem „Pogrom“, das radikale Siedler am Sonntagabend in der Westbank-Stadt Hawara durchgeführt hätten. Schätzungen der Armee zufolge überfielen mindestens 400 gewalttätige Siedler die Stadt, einige von ihnen maskiert und bewaffnet, andere mit Knüppeln, Eisenketten und Treibstoffbehältern. Häuser und Autos brannten, es gab Hunderte Verletzte. Niemand hielt sie auf, und niemand versuchte es ernsthaft, so der Vorwurf von Haaretz an die Sicherheitskräfte. Die Ausschreitungen waren die Reaktion auf die Ermordung von zwei jüdischen Siedlern.
Die Eskalation der Gewalt bereitet vielen in Israel Sorge, weil sich das Land in einem Umbruch befindet, den man durchaus als historisch bezeichnen kann. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu führt eine Koalition an, in der er der „Linksaußen“ ist: Er hat sich, so seine Kritiker, völlig in die Abhängigkeit von religiösen und radikal religiösen Parteien begeben. Diese wollen einen Umbau Israels, der innen- und außenpolitische Konsequenzen hätte. Seit seiner Gründung musste Israel einen Mittelweg finden zwischen einer liberalen säkularen Demokratie und dem Konzept des „jüdischen Staats“ als Heimat für ein Volk, das bis 1948 keine territoriale Heimat hatte. Israel hat mit seiner Verfassung einen bemerkenswerten Spagat geschafft, die Balance gelang, weil über allem das Konzept des „Rechtsstaats“ stand, in dem Minderheitsrechte garantiert werden. Die Grundidee der Gewaltenteilung ist allerdings nun infrage gestellt – das ist der Deal zwischen Netanjahu und den religiösen Fundamentalisten. Weder der Ministerpräsident noch seine radikalen Koalitionspartner wollen die unabhängige Justiz in der bisherigen Form erhalten: Die jüngsten Entscheidungen in Regierung und Knesset laufen darauf hinaus, dass die Justiz der Politik untergeordnet wird. Für die religiösen Politiker ist das eine ideologische Frage, für Netanjahu eine existenzielle: Er ist wegen Korruption angeklagt und wird alles tun, um an der Macht und in Freiheit zu bleiben.
Die geplante Änderung des Justizsystems wird von den Linken und Liberalen besonders kritisiert. Selbst im Ausland haben die Pläne für Aufsehen gesorgt. So sagte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock am Dienstag bei einem Treffen mit ihrem israelischen Kollegen Eli Cohen in Berlin, zu den Werten, die Deutschland und Israel verbinden, gehöre der Schutz rechtsstaatlicher Prinzipien. Baerbock sagte, das Ausland sorge sich um die Unabhängigkeit der Justiz in Israel. In konservativen und Mitte-rechts-Kreisen in Israel werden solche Ratschläge mit einem gewissen Unverständnis entgegengenommen. Wie schon die Konservativen in Polen, die wegen ähnlicher Vorwürfe am Pranger der EU stehen, verweisen israelische Gesprächspartner auf die große Nähe von einzelnen Bundesverfassungsrichtern zu Politikern oder politischen Parteien in Deutschland. Die Regierung Netanjahu hat sich bisher auch nicht von den wöchentlichen Massendemonstrationen beeindrucken lassen, die gegen einen befürchteten antidemokratischen Umbau in Tel Avivs Straßen stattfinden: Die 100.000 Demonstranten seien, so Regierungskreise aus Jerusalem, nur ein Prozent der Bevölkerung.



