Der Tod des 17-jährigen Nahel hat nicht nur seine Heimatstadt Paris, sondern ganz Frankreich erschüttert. Ein Polizist erschoss den jungen Franzosen Ende Juni während einer Verkehrskontrolle. Nahel saß am Steuer, ein minderjähriger Mann mit algerischen Wurzeln, der sich weigerte, den Anweisungen der Polizei zu folgen.
Der Vorfall reiht sich ein in eine lange Geschichte von Polizeigewalt. Kürzlich kam es wieder zu Auseinandersetzungen im Zentrum von Paris. Yssoufou Traoré, der Bruder des 2016 in Polizeigewahrsam verstorbenen Adama Traoré, wurde gewaltsam festgenommen. Begleitet wird all das von tagelangen Protesten und Plünderungen. Die Wut vieler vor allem junger Menschen in den französischen Vororten, den Banlieues, mündet in Gewalt auf den Straßen.
Nun schaut das ganze Land auf diesen Freitag, den Nationalfeiertag am 14. Juli. Aus Sorge vor neuen landesweiten Unruhen schicken die Regierung und Präsident Emmanuel Macron Zehntausende Polizisten in die Städte. Im Interview mit der Berliner Zeitung erklärt Camille*, eine 20-jährige Französin aus dem Pariser Vorort Asnières-sur-Seine, wie sie die aufgeheizte Stimmung im Land wahrnimmt. Camille hat algerische Wurzeln, sie selbst hat ihre Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Sie möchte anonym bleiben.
Camille, wie schauen Sie auf den Nationalfeiertag? Erwarten Sie weitere Unruhen?
Ausschreitungen am Nationalfeiertag sind nichts Neues. Wenn so viele Menschen zusammenkommen und auf die Polizei treffen, kommt es an diesem Tag immer wieder zu Spannungen. Die letzten Proteste sind nicht lange her, die Stimmung dürfte noch mal aufgeheizter sein. Es wird sicherlich Leute geben, die die Situation am 14. Juli ausnutzen werden. Ich hoffe, es hält sich in Grenzen.
Wie haben Sie die Proteste nach Nahels Tod miterlebt?
Der Tod von Nahel hat die Wut gegen die Polizei neu entfacht. Dabei spreche ich von Menschen, die ärmer sind und eine Migrationsgeschichte haben. Als ich einen Tag später raus auf die Straßen ging, sah ich die Folgen dieser Wut – abgebrannte Autos, rauchende Mülleimer und eingeschlagene Scheiben. In den Tagen darauf hatte ich Angst, aus dem Haus zu gehen, und konnte aus Sorge um mein gerade abbezahltes Auto kaum schlafen. Für mich ist es existenziell. Ohne dieses Auto komme ich nicht zur Arbeit. Die Tram wurde von der Stadt zeitweise abgestellt, damit die nicht auch noch angezündet wird.
Wie stehen Sie selbst zu diesen Protesten?
Für mich ergibt das keinen Sinn. In den Vorstädten leben viele Menschen bereits in ärmeren Verhältnissen. Warum dann das Hab und Gut der Menschen zerstören, die keine Schuld tragen? Ich bin jetzt sogar so weit gegangen, dass ich eine Nachricht auf die Windschutzscheibe meines Autos gelegt habe. Ich habe darum gebeten, das Auto zu verschonen. Etwas anderes blieb mir nicht übrig.
Haben Sie selbst protestiert?
Nein, es ist zu gefährlich. Seitdem meine Eltern aus Algerien nach Frankreich gekommen sind, arbeiten sie hart, damit ich studieren kann. Mein Studium und meine Zukunftspläne könnten darunter leiden. Viele Protestierende sind in Gewahrsam genommen worden, die meisten davon noch keine 18 Jahre alt.
Können Sie die Wut der Menschen verstehen?
Ja, ich verstehe den Zorn und den Schmerz der Leute um mich herum. Was ich nicht verstehe, ist die Gewalt und Zerstörungswut der Protestierenden. Ich finde, das wird Nahel nicht gerecht, zumal sogar seine Familie öffentlich zum Ende der Gewalt aufforderte. Stattdessen nutzten manche die emotionale Ausnahmesituation aus, um Geschäfte zu plündern. Die günstigen Discounter, in denen ich normalerweise einkaufe, sind demoliert. Nun muss ich mehr Geld für Essen ausgeben. Auf TikTok habe ich Videos von jungen Frauen gesehen, die sich beim Stehlen in Modegeschäften filmen. Aber Läden wie Zara auszurauben, hilft nicht dabei, künftige Morde zu verhindern. Im Gegenteil, es verstärkt die Ressentiments gegenüber Leuten aus den Banlieues, und radikale Politiker nutzen es als Legitimation für rassistische Äußerungen.
Haben Sie auch schon negative Erfahrungen mit der Polizei gemacht?
Erst vor ein paar Tagen wurde ich von der Polizei angehalten. Ich war zusammen mit meinem Vater unterwegs, um Pakete auszuliefern. Er arbeitet als Kurier. Ich saß am Steuer, als ein Polizist uns aufforderte anzuhalten. Natürlich war ich sehr nervös, ich dachte, dass ich etwas falsch gemacht hätte. Nachdem ich meinen Ausweis, Führerschein und Fahrzeugpapiere vorgelegt hatte, durfte ich weiterfahren. Im Nachhinein denke ich mir aber: Ich glaube nicht, dass sie eine junge weiße Frau mit ihrem Vater gestoppt hätten. Ich bin weder zu schnell gefahren noch habe ich irgendetwas Auffälliges getan. Außerdem saß mein Vater neben mir. Doch der wurde in der Vergangenheit schon öfter „routinemäßig“ kontrolliert.
Wie verfolgen Sie die Berichterstattung über die Proteste?
Die meisten Fernsehsender zeigen mit dem Finger auf die Protestierenden und sind alles andere als neutral. Stattdessen nimmt man den Polizisten in Schutz und sagt, er hätte „keine andere Möglichkeit gehabt“, als Nahel in die Brust zu schießen. Ich finde das übertrieben. Zwar war Nahel kein Engel, wie er oft von der anderen Seite dargestellt wird, schließlich hat er ja das Gesetz gebrochen, aber das hat dem Polizisten nicht das Recht gegeben, ihn zu töten.




