Es ist einer dieser Tage, an denen die Erde immer wieder ein bisschen bebt. Nicht messbare Beben sind das, nur empfundene. Wobei das kleine Wort „nur“ in seinem relativierenden Wesen eigentlich eine große Fehlbesetzung in diesem Satz ist. Denn auch nicht messbare Beben können Menschen aus der Bahn werfen, kippeln lassen, auch umwerfen. Man sieht es an der allgegenwärtigen Angst, an der Verunsicherung wie auch am zielgerichteten Verhalten, etwa dem Horten von Lebensmitteln oder Holz. So was macht man nicht, wenn die Erde ruhig ist. So was macht man, wenn sie bebt.
Ich bin an manchen Tagen trotz des Bebens gelassen und zuversichtlich. Man könnte auch sagen: Ich spüre es dann nicht. Als ob ich bebenabweisende Schuhe trüge. An anderen Tagen spüre ich es ab und zu, an wieder anderen ständig. Mir hilft Sachen kaufen dann nicht, dafür anderes. Geländer zum Dranfesthalten, bis das Beben nachlässt, können sein: Die Hand eines nahestehenden Menschen. Ein Buch voller starker Sätze und kraftvoller Gedanken. Ein tiefer Atemzug oder ein Blick in den Himmel. Oder ein fremder Mensch, der Ruhe ausstrahlt.
An diesem Tag also, als das Beben so spürbar ist und ich in der U-Bahn sitze, allein, ohne Buch und ohne Blickkontakt mit dem Himmel, sitzt mir ein Mann gegenüber. Er hat ein fast unglaubwürdig schönes schmales Gesicht, ebensolche Hände, ist fein gekleidet und schreibt in ein Notizbuch. Er schreibt wie ein Mensch, der die Bewegungen der Hand und des Stiftes mag. Zwischendurch blättert er in seiner Kladde, liest frühere Einträge und kehrt dann nachdenklich zum aktuellen zurück. Er wirkt, als ob er sich ganz allein in der U-Bahn wähnt, oder: Als ob nichts eine Rolle spielt in diesem Moment, Menschen nicht, Hunde nicht, Stationen nicht und vor allem keine Beben.
Nach einer Weile fällt mir die mit einem Schriftzug bedruckte Stofftasche auf, die neben ihm liegt. Das erste Wort kann ich zunächst wegen des Faltenwurfs nicht lesen, nur: ... „Angst, nichts bleibt beim Alten“. Ich ergänze im Stillen „Keine“ und später, als er sich erhebt, gibt mir der vollständige Schriftzug recht: „Keine Angst, nichts bleibt beim Alten“, steht darauf.
Ein merkwürdiger Satz, er hat mindestens zwei Klänge. Veränderung ist gut, wenn das Alte schlecht war oder ist. Andererseits: Kann man, kann ich wollen, dass es beim Neuen bleibt?

