Berlin-Irgendwann verliert Ridouan Taghi die Geduld. „Es herrscht Krieg“, textet er in einer Chat-Botschaft Ende des Jahres und schildert seine brisante Lage. „Danny und Karim haben Geld auf meinen Kopf ausgesetzt.“ Taghi schlägt zurück und – so die Überzeugung der Ermittler – heuert selbst einen Auftragsmörder an. Der gibt im Chat freimütig zu: „So gut bin ich noch nicht. Aber auf zehn Meter in den Oberkörper, dann hingehen und Kopf – das kriegt auch ein Anfänger hin.“
Peter de Vries geriet mitten in den Amsterdamer Drogenkrieg
Ein Anfänger ist Ridouan Taghi, 43, nach Ansicht der niederländischen Justiz nicht. Seit März dieses Jahres muss er sich in Amsterdam vor Gericht verantworten. Draußen im Vorort Osdorp grüßt ein schmuckloser Bau aus Waschbeton, drinnen werden harte Strafsachen verhandelt: Nötigung, Bedrohung und Auftragsmord wirft die Anklage den insgesamt 17 Verdächtigen vor. Eine weitere Straftat könnte hinzukommen, nämlich der Auftrag für den Anschlag auf TV-Fahnder Peter R. de Vries, der Taghis gefährlichsten Gegenspieler beriet: Nabil B., der 2017 aus Taghis Gang ausstieg und im sogenannten Marengo-Prozess der Kronzeuge der Anklage ist.
Das Attentat in der letzten Woche hat das Land geschockt. „Peter R. de Vries, misdaadverslaggever“ hieß seine legendäre Sendung im Privatsender SBS6 – Peter R. de Vries, Polizeireporter. Aber de Vries ist mehr als die niederländische Variante von Eduard Zimmermann und „Aktenzeichen XY … ungelöst“. De Vries ist ein TV-Fahnder. Einen Entführer des Brauereigranden Freddy Heineken spürte er eigenhändig in Paraguay auf, später entschlüsselte er den Mord an einer US-Schülerin auf den niederländischen Antillen mit einem eigenen verdeckten Ermittler. Und de Vries paukte zu Unrecht Verurteilte aus dem Gefängnis frei. Kurzum: Der Mann ist ein Kämpfer für die Gerechtigkeit.

De Vries’ unermüdlicher Kampf führt mitten in den Amsterdamer Drogenkrieg. Über dessen Innenleben wird derzeit vor Gericht in Osdorp verhandelt. Bunker wird das Gerichtsgebäude genannt. Die Aussagen, die dort seit März vorgetragen werden, klingen wie die Vorlage zur Netflix-Serie „Narcos: Mexico“ – eine Drogengang begreift rasch, dass sich mit Kokain mehr verdienen lässt als mit Cannabis … brutal bahnt sie sich den Weg und untergräbt die Justiz.
In Amsterdam ist noch kein Urteil über Ridouan Taghi ergangen. Aber für die Ermittler ist Taghi der Pate im Amsterdamer Kokainhandel. Taghi kommt 1980 im Alter von drei Jahren nach Amsterdam. Mitte des vergangenen Jahrzehnts gerät er ins Visier der Fahnder. Ihnen ist der Neuling auf dem hart umkämpften Amsterdamer Drogenmarkt komplett unbekannt. Im Polizeicomputer finden sich nur zwei Einträge: wegen zu schnellen Fahrens und wegen Telefonierens am Steuer.
Die Rolle der Niederlande im internationalen Drogenhandel
Spaniens Justiz hat Taghi da schon wegen Kokainhandel auf dem Radar. Sein Geschäftsmodell: Eine alte Drogenroute aus Nordafrika stellt er von Cannabis auf Koks um. Sein Vorgehen lässt sich aus den gehackten Chatprotokollen ablesen. „Ich bin schon betrunken und hab Blut nötig“, heißt er dort unmissverständlich. Oder auch „schlafen schicken“, „Ticket ohne Rückfahrtschein“ und „gehen müssen“. Das müssen so manche. Zwölf Morde bringt die Polizei in den Niederlanden mit dem Marengo-Prozess in Verbindung. Am Wochenende berichteten niederländische Medien unter Berufung auf Ermittler, dass Taghi schon vor seiner Festnahme „mehrere zig Millionen“ für seine Befreiung aus der Haft ausgesetzt haben soll.
Der Anschlag auf de Vries lenkt unseren Blick auf die Pressefreiheit: Ist sie in den Niederlanden bedroht? Erst am Samstag, also nur vier Tage später, wurde eine Fernsehsendung wegen Drohungen abgesagt. Das Studio im Zentrum von Amsterdam habe aus Sicherheitsgründen geräumt worden müssen, teilte der Sender RTL mit. Vor eben diesem Studio, war De Vries am Dienstag niedergeschossen worden, nachdem er in der Live-Sendung „RTL Boulevard“ aufgetreten war.
Doch geht es nicht um die Freiheit der Presse allein, als vielmehr um die Rolle der Niederlande im internationalen Drogenhandel. Jahrelang sei Spanien das Tor zum europäischen Markt gewesen, nun sei die iberische Halbinsel abgelöst durch die Niederlande und Belgien, konstatiert ein Bericht der globalen Initiative gegen Transnationale Organisierte Kriminalität (TOK). Und die britische BBC fragte schon vor zwei Jahren besorgt: „Werden die Niederlande ein Drogenstaat?“

Von der Spitze „eines Eisbergs“, schreiben Pieter Tops und Jan Tromp in ihrem Buch „Nederland Drugsland“ – Niederlande Drogenland. Tops ist Dozent an der niederländischen Polizeiakademie, Tromp hat jahrelang als Journalist gearbeitet. Für ihr Buch haben sie Finanzströme durchleuchtet. Aus Millionen von Überweisungen filterten Experten verdächtige Finanztransaktionen heraus. Das Ergebnis: Rund 18,9 Milliarden Euro pro Jahr werden in den Niederlanden mit illegalen Geschäften umgesetzt. „Da geht’s auch um Betrug, aber ein Großteil kommt aus Drogengeschäften“, schätzt Tromp in einem bemerkenswerten Interview mit der Zeitung Het Financieele Dagblad.
Die Drogenpolitik ist das eine Anliegen der beiden Autoren. Das andere ist das Vorgehen der Justiz. Weniger gegen die Konsumenten als vielmehr die Hintermänner im großen Drogengeschäft. „80 Prozent der synthetischen Drogen wird exportiert ins Ausland“ ist sich Tops sicher. Die Vermutung: Der rasante Anstieg auf Amsterdams Immobilienmarkt hat nicht allein etwas mit günstigen Zinsen zu tun, sondern auch mit den Unsummen an Drogengeldern, die sauber werden müssen. Notare, Makler, Banken – viele mischen mit.
Wer wissen will, wie das Business so läuft, erfährt im Prozess gegen Taghi die Feinheiten. Schon zu Jahresbeginn veröffentlichte die Zeitung Het Parool entschlüsselte Chatprotokolle. Eine Nachricht ist grammatikalisch nicht ganz korrekt, aber umso aufschlussreicher: „Sir in den Rechnungsbüchern stehen die Datum’s wann die Hitter ausbezahlt wurden.“ Und diese Daten decken sich auffällig mit Liquidationen in Amsterdams Unterwelt.
Der Staat wirkt hilflos im Kampf gegen die Drogenbanden
Auch Nabil B. lernt die „Hitter“ bald kennen, die Auftragsmörder. Er übernimmt für die Gang kleinere Straßengeschäfte. Im Januar 2017 wird ein Freund von ihm bei einem Anschlag irrtümlich von einer Kugel getroffen. B. verspricht dessen Eltern die Aufklärung der Tat. Auf eigenen Wunsch lässt er sich von der Polizei festnehmen und bietet sich als Kronzeuge an. Eine Woche darauf wird sein Bruder ermordet, später sein Anwalt Derk Wiersum. Auch der Journalist Martin Kok, der in seinem Blog über die Crime-Szene und Taghi berichtet, kommt 2016 ums Leben. Doch damals blieb es weitgehend still. Die Niederlande, ein Staat im geregelten Ausnahmezustand.
Erst nach dem Anschlag auf Peter R. de Vries, der Nabil B. als Zeugen der Anklage in seiner Standhaftigkeit ermunterte, wacht das Land auf. De Vries liegt weiter auf der Intensivstation einer Amsterdamer Klinik. Die niederländische Politik zeigt sich erschüttert. „17 Millionen Menschen in unserem Land leiden mit“, sagte Premierminister Mark Rutte. Doch beginnt nun auch die Frage, warum im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität so wenig geschieht.
Die niederländische Politik wirkt hilflos im Kampf gegen die Drogengewalt. Das war schon vor drei Jahren so. „Es scheint, als ob der Preis niedriger ist denn je und noch weiter fällt“, gestand Justizminister Ferdinand Grapperhaus damals im Parlament nach dem Mord am Bruder des Kronzeugen Nabil B. Ein Auftragsmord in Amsterdam sei schon für „2000 bis 5000 Euro“ zu haben, sagte Grapperhaus resignierend. Nichts wert, so ein Menschenleben.

