Berlin/Heidelberg-Nach dem Amoklauf an der Universität Heidelberg liegt das Motiv für die schreckliche Tat, bei der am vergangenen Montag durch mehrere Schüsse eine 23-Jährige getötet und drei weitere junge Menschen verletzt worden waren, weiter im Dunkeln. Nach der Tat brachte sich der 18-jährige Schütze selbst um. Die Polizei deutete an, dass eine „im Raum stehende“ psychische Erkrankung des jungen Mannes Ursache für die Tat gewesen sein könnte. Die Studenten an der ältesten Uni Deutschlands versuchen indes, mit dem Geschehenen fertigzuwerden. Sie wollen, dass die Tat aufgearbeitet wird, sagte Peter Abelmann, der Vorsitzende der Studierendenschaft.
Herr Abelmann, wie haben Sie den vergangenen Montag erlebt?
Ich war im Schockmodus. Man sagt das manchmal so dahin, aber in diesem Fall kann man das Wort wirklich so benutzen. Ich bin zunächst ganz normal in den Tag gestartet, bin in mein Büro auf dem Campus Bergheim gegangen – gerade mal einen Kilometer Luftlinie vom Tatort entfernt. Plötzlich ploppten diverse Chatgruppen auf meinem Handy auf – seit Corona sind wir ja alle bestens vernetzt. Die Nachricht von einem Amoklauf verbreitete sich wie im Fluge, und ich dachte nur: Was ist hier los, was soll ich machen? Sollte ich vielleicht meine Tür schließen? Und dann brach alles zusammen. Plötzlich war von einer Leiche die Rede, die Polizei meldete, auch der mögliche Täter sei tot. Ein Schock – und für mich gleichzeitig auch der Startschuss dafür, meine Funktion zu erfüllen: Betroffene beraten, die Fachschaft der Biowissenschaften, in der der Amoklauf stattfand, abschotten, Presseanfragen koordinieren. Das alles tue ich seit diesem Moment – sieht man von ein paar Stunden Schlaf mal ab – ohne Pause.
Kannten Sie die betroffenen Studierenden?
Jetzt kenne ich die Leute, die im Hörsaal saßen, davor nicht. Man muss das noch mal deutlich sagen: Das waren Erstsemester, die saßen in ihrer zweiten Tutoriumsveranstaltung in Präsenz zusammen. Und dann passiert so etwas. Das ist so schrecklich, junge Leute, die an der Uni noch gar nicht vernetzt sind, kaum Kontakte haben, die pandemiebedingt bislang nur zu Hause an digitalen Veranstaltungen teilgenommen hatten. Und nun kommen sie an ihre neue Uni und müssen gleich mit so einer Tat fertigwerden.

Seit Herbst 2020 ist Abelmann Vorsitzender der Verfassten Studierendenschaft, war aber auch davor schon in der Organisation aktiv, die die Interessen aller eingeschriebenen Studenten der Hochschule vertritt.
Wie können Sie als Vorsitzender der Studierendenschaft da helfen?
Zunächst einmal muss man sagen, dass die meisten Studenten, besonders die, die die Tat erlebt haben, abgeschottet werden wollen. Die möchten bis auf wenige Ausnahmen nicht mit den Medien reden, sie haben Angst, etwas Falsches zu sagen oder falsch zitiert zu werden. Dafür habe ich Verständnis, sie sind alle immer noch geschockt und das muss man respektieren. Wir haben hier in Heidelberg 30.000 Studenten, denen machen wir jetzt Vorschläge zur Trauerarbeit, wir müssen uns da kümmern. Dass die Fachschaften Trauerkarten kaufen können, dass es einen Ort gibt, wo man hingehen kann. Es sind so viele Aufgaben, und es ist eine Ausnahmesituation, die nirgendwo vorgesehen ist und für die auch kein Geheimplan irgendwo in der Schublade liegt.
Wie geht es den Studenten an der Uni jetzt? Sie haben einen langen Lockdown und Corona-Beschränkungen hinter sich, und nun müssen sie auch noch einen Amoklauf verkraften.
Es gibt welche, die Hilfe brauchen, die reden wollen. Denen machen wir Angebote. Auch den Verwandten und Freunden, die in der ersten Panik um ihre Angehörigen gebangt haben, muss teilweise geholfen werden. Viele von denen kommen zunächst mal zu uns.
Wohin schicken Sie Betroffene mit ihrer Trauer und ihren Ängsten?
Zum einen gibt es die psychosoziale Beratung des Studentenwerks, die auch in der Pandemie schon Unglaubliches geleistet hat. Denn wie Sie sagen, die Studierenden leiden wegen Corona auch unter Vereinsamung, sie saßen so lange zu Hause, da entstanden genug Probleme. Dann haben wir in Heidelberg die Nightline, das ist ein Zuhör- und Informationstelefon von Studierenden für Studierende. Und wir haben die unieigenen Kliniken mit ihren Experten.
Neben der psychologischen Begleitung soll es auch Trauerveranstaltungen geben.
Es ist eine Trauerfeier in der Universitätskirche geplant, sie soll am Montag, genau eine Woche nach der Tat, stattfinden. Außerdem hat das Studierendenwerk mit uns einen Ort der Trauer in der Mensa auf dem Campus Neuenheimer Feld eingerichtet – einen großen, abgeschotteten Raum, der mit weißen Tüchern verhangen wurde.
Sie setzen sich auch für einen dauerhaften Gedenkort ein.
Auf jeden Fall. Die Studierenden haben den Wunsch, dass die Tat aufgearbeitet wird, und viele wünschen sich einen permanenten Trauerort. Es muss aber auch dauerhafte Unterstützungsangebote geben, denn für viele Betroffene ist das erste traumatische Erlebnis in ihrem Leben. Und bei manchen werden Traumata bleiben. Wir werden das Ganze nicht so schnell beiseiteschieben können.
Man hört von Anteilnahme aus aller Welt.
Das stimmt, es ist einfach unglaublich. Die Uni Heidelberg ist ja weltweit vernetzt, es haben sich ganz viele Ehemalige gemeldet, Alumni aus allen Teilen der Welt. Fast alle Studierendenschaften haben Nachrichten geschickt, Erasmus-Studenten, Professoren. Auf dem ganzen Uni-Gelände sind spontane Orte der Erinnerung entstanden, die Menschen wollen zeigen, dass sie trauern und Anteil nehmen. Selbst in der Heidelberger Altstadt brennen Kerzen. Das hat uns emotional sehr berührt.

Ihre Uni steht für Offenheit, für eine internationale Studierendenschaft. Wie geht es nun weiter, kann es normalen Alltag überhaupt so schnell wieder geben?
Wir merken schon jetzt, dass viele Studenten nach dem Amoklauf erst recht wieder an ihre Uni kommen wollen. Eine Kommilitonin hat zu mir gesagt, sie habe sich am Dienstag direkt in eine Vorlesung gesetzt, um das Geschehene zu verarbeiten. Also ja, wir wollen und wir müssen natürlich weitermachen. Die Biowissenschaften setzen zwar erst mal aus, aber viele Studenten wollen gerade jetzt zusammen sein, mit anderen reden. Zu Hause sind sie doch nur wieder allein mit sich, wie zuletzt so oft in der Pandemie. Das ist für viele gar keine Option.
Was wünschen Sie sich in Bezug auf den Umgang mit der Tat?
Dass wir die Tat nicht vergessen und lernen, mit unseren Gefühlen umzugehen. Wir können das Geschehene nicht mehr löschen, nun müssen wir eine Erinnerungskultur pflegen, die an die Opfer erinnert. An die tote Studentin, an ihre verletzten Kommilitonen, an die über 20 traumatisierten jungen Menschen, die im Hörsaal saßen, als der Täter seine Waffe abfeuerte. Auch an den Täter müssen wir in irgendeiner Form denken. Er war Student bei uns, er war einer von uns, bevor er sich dazu entschieden hat, sich aus unseren Reihen heraus zu begeben. Wir wissen noch immer nicht, warum er das getan hat – aber jeder hier wünscht sich auch eine Erklärung für diese Tat. Vielleicht nur werden wir so eine Erklärung nie bekommen.
Nach dem Amoklauf kam auch die Frage auf, ob man die Uni künftig besser schützen müsste, mit Zugangskontrollen, Detektoren oder Ähnlichem.


