Kommentar

9-Euro-Ticket: Der letzte Monat hat begonnen – so sollte es weitergehen

Ein Sommermärchen: Deutschland fährt Bahn. Die Politik sollte den Schwung nutzen und ein attraktives Nachfolgeangebot schaffen. Nicht alle Ideen sind gut.

Fahrgäste im Untergeschoss des Berliner Hauptbahnhofs. Ein Regionalzug fährt ein.
Fahrgäste im Untergeschoss des Berliner Hauptbahnhofs. Ein Regionalzug fährt ein.dpa/Christoph Soeder

Wie schnell die Zeit vergeht! Zwei Monate mit dem 9-Euro-Ticket liegen hinter uns, der letzte Monat hat begonnen. „Deutschland, ein Sommermärchen“: Der Titel des Films über die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 beschreibt gut, was in diesem Sommer in und mit Deutschland passiert ist.

Das weltweit einzigartige Sonderangebot hat Menschen, die bisher nicht im Traum daran gedacht hatten, Bahn oder Bus zu fahren, wieder an den öffentlichen Verkehr herangeführt. Schon bis Ende Juni wurden 21 Millionen Tickets verkauft. Das ist in einem Markt, der seit Jahren kaum wuchs, ein sagenhafter Marketingcoup. Menschen stellen Reisepläne zusammen, um ihr Land kennenzulernen. Wer nur wenig Geld hat, freut sich über die preiswerte Möglichkeit, Verwandte und Freunde zu besuchen. Noch wichtiger: Der Nahverkehr, bisher ein Randthema für Lokbildersammler und wenige Experten, sorgt bundesweit für Diskussionen. Das 9-Euro-Ticket ist ein großer Erfolg.

Deutschlandtypisch depressive Schlaumeierei

Es ist nicht so, dass alle Bedenkenträger falsch lagen. Doch die Kritik, meist deutschlandtypisch depressive Schlaumeierei, die auf Misserfolg fixiert ist, traf oft nicht den Punkt. Ein Beispiel: Sicher, manche Züge sind voll, sehr voll sogar. Doch das waren sie etwa zwischen Berlin und der Ostsee an Sommerwochenenden schon immer. Der Unterschied ist, dass die Überfüllungen jetzt Thema in allen Medien sind – und die Verantwortlichen mehr Zugfahrten ans Meer bestellt haben. Korrekt ist, dass die Bahn auf nicht allen, aber vielen Strecken vor dem Offenbarungseid steht. Doch richtig ist es auch, zeitweise Druck aufs System zu geben, um Schwachstellen öffentlich zu machen.

Ein anderes Beispiel: In der Tat hat es das 9-Euro-Ticket bisher offenbar nicht geschafft, Pendler in nennenswerten Größenordnungen aus ihren privaten Autos dauerhaft in Bahnen und Busse zu locken. Doch hat jemand im Ernst damit gerechnet, dass die Menschen nach nur wenigen Wochen ihre Alltagsroutinen umkrempeln?

Parteien denken sich Geschenke aus, die der Bund bezahlen soll

Das 9-Euro-Ticket mit einem solchen Anspruch zu überfrachten, wäre ein großes Missverständnis. Denn es wurde nicht primär ersonnen, um die Mobilitätswende voranzutreiben, sondern um eine Entsprechung zum Tankrabatt zu schaffen. Es ist vor allem ein sozialpolitisches, weniger ein verkehrspolitisches Instrument. Wer nur maximale Verhaltensänderungen im Alltag gelten lässt, verkennt zudem die wachsende Bedeutung des Freizeitverkehrs, für den dieses Ticket vor allem genutzt wird.

Nun steht die Frage an, wie es von September an weitergehen soll. Um bei Filmtiteln zu bleiben: Lieber „Sie tanzte nur einen Sommer“ oder „The Endless Summer“?

Es spricht für die Bedeutung dieses Experiments, dass ein Überbietungswettbewerb begonnen hat. Parteien denken sich Geschenke aus, die der Bund bezahlen soll. Ein bundesweiter Nulltarif gehört zu den Forderungen, mindestens eine dauerhafte Verlängerung des 9-Euro-Ticketangebots. Doch die resultierende dauerhafte Überlastung würde das System Bahn schon bald heiß laufen lassen.

Die Wünsch-dir-was-Debatte verstellt den Blick auf eine graue Wirklichkeit

Mobilität gratis oder fast gratis zur Verfügung zu stellen, widerspräche auch der Erkenntnis, dass öffentlicher Verkehr ebenfalls Ressourcen verbraucht und Kohlendioxid erzeugt. Der Preis muss wenigstens ansatzweise ein Äquivalent zu diesen Belastungen und zur gebotenen Leistung sein. Darum wären auch 29 Euro im Monat für ein bundesweites Nahverkehrsticket zu billig. Ein Tarif von 69 Euro, wie es der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen vorschlägt, würde dem Wert eher entsprechen.

Was jetzt benötigt wird, ist ein Ziel, ein Zeitplan – und die Erkenntnis des Bundes, dass auch er sich an der Konzeptionsarbeit beteiligen muss. Sinnvoll wäre es, die bestehenden Ländertickets neu zu profilieren und mit einer bundesweiten Variante zu ergänzen. Wenn es wie in den Niederlanden eine Chipkarte gäbe, mit der im ganzen Land Bus- und Bahnfahrten durch Ein- und Auschecken einfach abgerechnet werden könnten, würden auch Gelegenheitsfahrer profitieren.

Die jetzige Wünsch-dir-was-Debatte verstellt den Blick auf eine graue Wirklichkeit, die in weniger als einem Monat erneut über uns hereinbrechen wird. Der Flickenteppich der Verkehrsverbünde und das Durcheinander der Tarifangebote werden wieder zum Tragen kommen. Das gilt auch für die Unterfinanzierung: Schon drohen Verkehrsbetriebe Angebotskürzungen an, und auch im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg werden Tariferhöhungen ausgearbeitet.

Das 9-Euro-Ticket hat gezeigt, dass es anders, besser gehen kann. Es hat Schwung in die Diskussion gebracht. Wir sollten ihn nutzen – damit aus dem „Sommermärchen“ ein „Endless Summer“ wird.