Tagebuch

Immer mehr Orca-Attacken auf europäische Boote: Die Rache der Wale

Jahrzehntelang galten Orcawale als liebenswerte Tiere, die lediglich in Gefangenschaft gefährlich werden. Eine Reihe von Angriffen stellt dieses Bild infrage.

Orcas attackieren Boote auf dem offenen Meer. Die Vorfälle häufen sich. Sogenannte Killerwale könnten das aggressive Verhalten eines verstörten Weibchens nachahmen, vermuten Experten.
Orcas attackieren Boote auf dem offenen Meer. Die Vorfälle häufen sich. Sogenannte Killerwale könnten das aggressive Verhalten eines verstörten Weibchens nachahmen, vermuten Experten.dpa-tmn

Spätestens seit die New York Times vor knapp einer Woche ein Video eines Orca-Angriffs veröffentlichte, war die Sache nicht mehr zu leugnen. Die jüngsten Berichte über vermeintliche Angriffe der Raubtiere auf Schiffe vor der Iberischen Halbinsel schienen unsere Vorstellung der Tiere fundamental infrage zu stellen.

Von dem berühmt gewordenen Kinderfilm „Free Willy“, der den Orca vor 30 Jahren einer ganzen Generation näherbrachte, zu dem anrührenden Dokumentarfilm „Blackfish“ (2013), der die erschütternden Fang- und Zuchtpraktiken der Wale durch Seaworld-Parks anklagte, schien eine Message popkulturell klar vermittelt: Orcawale sind menschenfreundliche Zeitgenossen. Zu „Zwischenfällen“ (abgebissene Arme, lebensgefährliche Unterwasserspiele, Tote) sei es immer nur dann gekommen, wenn man die hochgradig intelligenten und sehr sozialen Tiere in zu kleine Becken sperrte und so traumatisierte.

Die jetzt dokumentierten Vorfälle scheinen dieses Bild ein wenig zu relativieren. Am 4. Mai etwa versenkten Orcas in einem der extremsten Fälle eine ganze Jacht. „Es waren zwei kleinere Orcas und ein größerer“, sagte der Skipper Werner Schaufelberger der Segelzeitschrift Yacht. Die kleinen hätten hinten am Ruder gerüttelt, während ein großer immer wieder zurücksetzte und das Boot mit voller Wucht seitlich rammte. Die beiden kleineren Wale hätten die Rammtaktik des größeren Orcas nachgeahmt. Bei dem großen handle es sich wohl um eine Matriarchin namens White Gladis.

Das Ganze einen „Angriff“ zu nennen ist natürlich ein klassischer Fall von Anthropomorphismus und noch längst nicht erwiesen. Dass hier jedoch etwas Merkwürdiges vor sich geht, scheint außer Frage zu stehen. Laut Arbeitsgruppe Atlantischer Orca (GTOA) gab es allein in diesem Monat 20 Zwischenfälle zwischen den Raubtieren und kleinen Schiffen in der Straße von Gibraltar.

In den frühen Morgenstunden letzten Donnerstag etwa durchbohrte eine Gruppe Orcas den Rumpf eines Bootes, nachdem sie es auf dem Weg nach Gibraltar gerammt hatte, woraufhin die vierköpfige Besatzung die spanischen Behörden um Hilfe bat. Ein Sprecher des Seenotrettungsdienstes sagte, der Dienst habe ein Schnellboot und einen Hubschrauber entsandt.

Manche Experten gehen davon aus, dass White Gladis, die Anführerin, einen Moment von „Agonie“ erlitten haben könnte, etwa beim Zusammenstoß mit einem Boot. Oder dass sie sich in illegalen Fischernetzen verhedderte. Ihr Verhalten habe sich daher in einer „defensiven“ Weise verändert. „Dieser traumatisierte Orca ist derjenige, der dieses Verhalten des physischen Kontakts mit den Booten ausgelöst hat“, erklärte Dr. Lopez Fernandez gegenüber Live Science. Vieles deutet darauf hin: Gladis will Rache. Und seien wir ehrlich: Wer könnte es ihr verdenken?