Der Polizeibeamte nannte mich am Handy seinen „Hilfssheriff“. Es war als Ermutigung gedacht. Wir telefonierten einen ganzen Nachmittag lang alle 30 Minuten, um uns gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen. Ich saß über Stunden wie festgewachsen neben meinem Telefon zu Hause. Der Polizist und sein Einsatzteam lagen im Neuköllner Stadtteil Britz auf der Lauer.
Sie wollten einen Amazon-Boten abpassen, der ein in meinem Namen bestelltes Paket an eine fremde Adresse liefern sollte. Meine Aufgabe bestand darin, immer wieder die Lieferinformationen zu aktualisieren oder auf ungewöhnliche Aktivitäten auf meinem manipulierten Konto zu achten. Ich fühlte mich wie in einem Krimi. Und damit lag ich auch nicht falsch. Ich half bei der Aufklärung eines wirklichen Kriminalfalls. Das Opfer der Straftat war ich.
Die Gesellschaft stigmatisiert die Opfer
Opfer. Erst nachdem mich Polizei, Behörden oder Versicherungen so bezeichneten, erschloss sich mir die Bedeutung für mein Selbstwertgefühl. Ich habe in meinem Job als Reporter Menschen interviewt, denen in Kriegsgebieten Unsägliches zugefügt wurde. Mich hat immer gestört, dass das Wort für eine Person, der Unrecht zugefügt wurde, über den Jugendjargon hinaus zu einer Beleidigung wurde. Auf Unschuldige herabzuschauen, war für mich Zeichen einer Mitgefühl und Anstand verlierenden Gesellschaft.
Aber jetzt ertappe ich mich bei meiner Scham, Opfer zu sein. Es fühlt sich erniedrigend an, etwas zugefügt zu bekommen. Es kostet Stolz, um Hilfe zu bitten angesichts von Überforderung. Und die bohrendste aller Fragen: Wie bin ich in diese Lage gekommen?
Es war ein bezaubernder Abend in einer Altbauwohnung in Kreuzberg. Die Gastgeberin servierte Moules-frites, Muscheln mit Pommes, wie sie in Frankreich und Belgien gegessen werden. Muscheln wollen schwimmen. Es gab Weißwein und zum Aperitif Crémant. Das Abendessen und die gemütliche Tischrunde endeten gegen zwei Uhr in der Nacht. Ich freute mich auf einen Spaziergang an der frischen Luft zur Haltestelle und verzichtete auf ein Taxi. Stattdessen setzte ich mich in die U8. Ich stieg an der Boddinstraße unweit meines Wohnorts im Schillerkiez aus. Das Handy nahm ich noch im U-Bahnhof in die Hand. Ich wollte mich mit einer Kurznachricht für die Einladung bedanken. Das war dumm.
Der Dieb handelte schneller, als mein Verstand begreifen konnte. Eine Hand griff noch vor dem Ausgang nach meinem Handy. Ich rannte hinterher, schrie, aber der junge Mann war schneller als ich. Ich verließ die U-Bahn-Station im Schock – und bemerkte erst danach eine Leere in der Gesäßtasche. Ein zweiter Täter hatte meine Ablenkung genutzt, um mir den Geldbeutel zu stehlen. Mir wurde eiskalt.
Die Diebe nutzen das Amazon-Konto
Zwei Tage später – ich hatte schon Anzeige bei Polizei erstattet, einen neuen Personalausweis beantragt und mein Bankkonto gesperrt – trudelten auf meinem neuen Handy Nachrichten von Amazon über angeblich von mir bestellte Pakete ein. Mit Mühe gelang es mir, Zugang zu meinem Amazon-Konto zu bekommen. Das zweistufige Sicherheitsverfahren ist bei vielen Plattformen an ein bestimmtes Handygerät geknüpft. Es brauchte für die Nerven strapazierende Stunden in Telefon-Hotlines, um wieder die Kontrolle zu erlangen. Beim Anblick der in meinem Namen an eine fremde Adresse bestellten Waren war ich nicht sicher, ob ich weinen oder lachen sollte.
Der oder die Täter hatten im Wert von Hunderten von Euro alles bestellt, was echte „Gangsta“ brauchen können: Sneaker, Kapuzenpullover, eine Trainingshose, eine Panzerhalskette aus Gold. Ich jubilierte, als ich auf die geänderte Adresse und Handynummer stieß. Die Täter hatten ihre Kontaktdaten hinterlassen. Wie konnten sie so dumm sein?
Die Polizei legte sich in Britz auf die Lauer
Ich ließ alles liegen und lief zur Polizeiwache. Danach spielte ich in meinem persönlichen „Tatort“ mit. Der Beamte im Einsatz in Britz machte es in unseren Gesprächen über die Entwicklung auf meinem Amazon-Konto spannend. Er flüsterte am Diensthandy, wenn sich ein Verdächtiger näherte. Einmal brach er das Gespräch ab. Er ließ mich hoffen auf eine Verhaftung.
Die Polizisten hatten den Amazon-Boten mit dem angeblich von mir bestellten Paket abgepasst und über die Straftat informiert. Ein Beamter rief dann bei der auf Amazon hinterlegten Nummer an und hinterließ als angeblicher Lieferant eine Nachricht. Der Besitzer der Nummer, mutmaßlich einer der beiden Diebe, reagierte aber nicht. Und niemand tauchte bei einem Paketshop in der Nähe auf, den die Polizei als Abholort angegeben hatte. Der Einsatz wurde nach einigen Stunden abgebrochen.
Drei am Telefon, auf Behörden oder bei der Polizei verbrachte Tage benötigte es, um den Schaden einzugrenzen. Ich stecke wegen eines an mein altes Handy gekoppelten Sicherheitsverfahrens unter anderem bei meinem Mobilfunkdienstleister in einer Sackgasse. Ich kann meine Rechnungen nicht mehr auf meiner Kundenseite einsehen. Mir graut davor, in einigen Tagen mein im Moment gesperrtes Onlinebanking mit neuen Zugangsdaten zu installieren. Immerhin kann ich meine Identität mit meinem Reisepass nachweisen und mich mit Bargeld versorgen. Immer wieder höre ich: Du bist unverletzt, was für ein Glück.
Die Diebe haben mir mehr genommen als mein Handy und mein Geld. Als Mann, der sich mit Krafttraining fit hält, habe ich mich immer sicher gefühlt. Langsam kommen meine grauen Haare. Bin ich alt geworden und deshalb leichte Beute für Kriminelle?
Warum habe ich kein Taxi genommen und bin nachts in Berlins Höllenlinie U8 gestiegen? Haben die Täter mir angesehen, dass ich bei dem Abendessen in Kreuzberg ein Glas zu viel getrunken hatte? Sollte ich überhaupt noch abends ausgehen?
Berlin erscheint mir als immer gnadenloserer Ort, an dem sich Unglück ausbreitet. Menschen, oft nicht in Deutschland geboren, fallen in die Gosse und verhalten sich entsprechend. Es wird im öffentlichen Raum immer schwieriger, Gefahr oder Belästigung aus dem Weg zu gehen. Die guten Menschen der Stadt – dazu zählen Berlins Polizeibeamte, die Helfer von Rettungsdiensten und Feuerwehr – brennen aus, weil sie mit Herausforderungen überfordert sind. Ein Beamter erklärte mir nüchtern, wie schlecht die Chancen auf Aufklärung in meinem Fall stünden. Für eine Handyfahndung sei die Straftat angesichts eines in Deutschland unantastbaren Datenschutzes und hoher Kosten des Verfahrens nicht schwerwiegend genug. Vielleicht waren die Täter schlauer als gedacht.
