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Der Brunnen plätscherte noch. Die Stimmen der Mahnwache waren verklungen, die letzten Friedenstauben auf ihren Pappschildern eingerollt, als ich mich auf den Rückweg machte. 153 Mahnwachen. 153 Donnerstage, an denen wir erinnerten, was nicht in Vergessenheit geraten darf: dass Armut in diesem System keine Panne ist, sondern eine Funktion; dass der Krieg nicht nur am Hindukusch beginnt, sondern in den Portemonnaies derer, die sich zwischen Butter und Buskarte entscheiden müssen.
Ich wollte mir etwas zu essen kaufen. Der Hunger war banal, bürgerlich. Der Discounter um die Ecke hatte noch offen, das Licht innen grell, fast aggressiv, wie um mir zu zeigen, wie viel ich mir leisten kann, während ich durch die Gänge schlenderte. Und dann sah ich ihn.
Die Flasche Wein verschwand in seinem Hosenbund
Er kam mir entgegen, taumelnd, als ob der Boden ihm nicht ganz gehorchte. Ein Mann irgendwo zwischen 60 und dem Ende. Die Hose schlammbraun, hinten nass, vollgekotet. Das T-Shirt schlaff, grau, eine Art Leichentuch in Baumwolle. Aber seine Bewegung, die war plötzlich geschmeidig, wie ein Reflex: Die Flasche Weißwein verschwand mit einer einzigen, routinierten Geste vorn im Bund seiner Hose. Das Shirt darüber. Niemand schien es zu bemerken. Nur ich.
Ich hielt den Atem an, mein Blick blieb an ihm hängen, an diesem Bild zwischen Not und Überlebenstrick, zwischen Ekel und Erbarmen. Eine Flasche, kaum drei Euro. Und doch eine ganze Welt.
Was hätte ich tun sollen? Hätte ich ihn anzeigen sollen? Damit ein Mensch, der vielleicht den nächsten Winter nicht überlebt, heute schon ein Hausverbot kassiert – oder mehr? Damit ein Kassierer, der für etwas mehr als Mindestlohn Überstunden schrubbt, Ärger vom Filialleiter bekommt, weil ich zur falschen Uhrzeit mit der falschen Beobachtung gekommen bin?
Hätte ich ihm die Flasche kaufen sollen? Ihm Geld geben für Alkohol, den er nicht trinkt, weil es ihm schmeckt, sondern weil er ihn braucht wie andere die Luft? Aber ich will keinen Alkohol kaufen für Menschen, die sterben, wenn sie nüchtern werden. Und diese Flasche war ohnehin verloren – wer sollte sie ihm aus der Hose nehmen?
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Richtige Moral im falschen System?
Ich tat – nichts. Nicht im Laden. Nicht draußen. Ich ließ ihn gehen, so wie man ein Tier in der Falle nicht befreit, weil man glaubt, dass es ohnehin verendet. Ich sah ihm nach, wie er im Dunkeln verschwand, ein Schatten mit einer Flasche am Leib. Und ich quäle mich mit der Frage, was richtig gewesen wäre. Ob es reicht, menschlich zu denken, wenn man unmenschlich handelt. Ob es in einem falschen System überhaupt eine richtige Moral geben kann. Oder ob man schuldig wird – egal was man tut.


