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Wladimir Gall: Der Held aus der Sowjetunion, der im Mai 1945 vielen Berlinern das Leben rettete

Am 1. Mai 1945 wird die Zitadelle Spandau kampflos an sowjetische Truppen übergeben. Der Dolmetscher Wladimir Gall bewahrt sie dabei vor der Zerstörung und viele Menschen vor dem Tod.

Die Zitadelle Spandau in den 1930er-Jahren
Die Zitadelle Spandau in den 1930er-JahrenArkivi/imago

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Strahlend blau ist der Himmel über Berlin. Im warmen Frühlingslicht des Jahres 2025 umrunden zahlreiche Spaziergänger die Spandauer Zitadelle. Wer das trutzige Bauwerk betrachtet, muss den Kopf allerdings in den Nacken legen, um hoch hinaufzublicken, auf die fünfhundert Jahre alte Renaissance-Festung, die in ihrer Geschichte so vieles gesehen hat. Viele Dramen haben sich hinter ihren Mauern abgespielt, oft wurde sie umkämpft.

Schwedische Truppen belagerten sie während des Schwedeneinfalles 1675. Napoleon Bonaparte besichtigte die Zitadelle 1806, nach der Kapitulation durch den preußischen Major Ernst Ludwig von Beneckendorf nach dem Krieg mit Frankreich. Hinweistafeln am Rundweg zeugen überdies von einer bewegenden Geschichte, die sich in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges hier zugetragen hat. Eine Geschichte ist das, in der Wladimir Samoilowitsch Gall eine Hauptrolle gespielt hat.

Die Spandauer Zitadelle
Die Spandauer ZitadelleReto Klar/imago

Rotarmist und Philanthrop

Gall wird am 20. Januar 1919 im ukrainischen Charkiw geboren. Nach seinem Abitur beginnt der junge Wladimir 1936 ein Studium an der Moskauer Hochschule für Geschichte, Philosophie und Literatur in den Fachrichtungen Weltliteratur und Deutsch. Er meldet sich nach seinem Studium freiwillig zur Roten Armee und zieht mit der 1. Weißrussischen Front unter Marschall Schukow auf Berlin. Aufgrund seiner guten Deutschkenntnisse wird er einer Sondereinheit für Propaganda zugeteilt.

Wladimir Gall ist ein Philanthrop, er liebt die deutsche Literatur und es fällt ihm schwer zu glauben, dass alle Deutschen Verbrecher sind, die seine Heimat überfallen und so sehr geschunden haben. Daher mag sein engagierter Einsatz als Parlamentär kommen, mit dem er später so vielen Menschen in der Zitadelle Spandau das Leben retten soll. Während dieser Zeit lernt er übrigens auch den blutjungen Kommunisten Konrad Wolf kennen, der später als Regisseur seine Kriegserlebnisse in dem Defa-Film „Ich war 19“ mit Jaecki Schwarz in der Hauptrolle verarbeitet.

„Lasst Waffe ruhe!“: Major Grischin in dem Film „Ich war 19“

Ende April 1945 ist der Krieg längst verloren. Hitler hat sich das Leben genommen. Berlin liegt in Trümmern. Noch immer aber werden einzelne Bastionen und Gefechtsstellungen verzweifelt von Männern verteidigt, die noch immer nicht wahrhaben wollen, dass das Dritte Reich nun sein blutiges Ende gefunden hat.

In diesen Tagen erreicht Gall die zerstörte Stadt Berlin zusammen mit seinem Vorgesetzten Major Grischin, für den er die Dolmetscherrolle übernehmen soll. Auch die Soldaten der Roten Armee sind von einem langen Marsch, dem Hunger und den vielen Kämpfen körperlich und seelisch zermürbt. Gall und Grischin sollen versuchen, die deutsche Besatzung der Zitadelle Spandau davon zu überzeugen, dass ein weiteres Blutvergießen sinnlos ist und nicht im Interesse der Roten Armee liegt.

Berlin Anfang Mai 1945, kurz nach Ende der Kampfhandlungen
Berlin Anfang Mai 1945, kurz nach Ende der KampfhandlungenLeonid/imago

Der „Churchill-Mantel“

In den Mauern der Zitadelle haben Hunderte von Zivilisten, Frauen, Kinder und Alte, Schutz vor den Kämpfen gesucht. Die Besatzung der Zitadelle besteht nur noch aus Resten einer Volkssturmkompanie sowie Wissenschaftlern in Uniform, den Mitarbeitern des Heeresgasschutzlaboratoriums, das seit 1936 auf der Zitadelle untergebracht war. Kommandant der Zitadelle ist Oberst Prof. Dr. Gerhard Jung.

Gall schildert später in seiner Autobiografie „Mein Weg nach Halle“, wie er zunächst versucht, mit Ansagen von seinem Lautsprecherwagen aus die Deutschen zur Kapitulation zu bewegen. Auch Flugblätter werden abgeworfen, Einwohner Spandaus zur Zitadelle geschickt – vergebens. Grischin beschließt am 1. Mai, selbst die Rolle des Parlamentärs einzunehmen. Eine weiße Fahne wird improvisiert. Mit einem Weidenstock, an den ein Stück weißer Stoff gebunden wird, nähert sich der Major der Festung.

Mit ihm kommt Gall, er trägt einen neuen Mantel, genäht aus englischem Stoff, der „Churchill-Mantel“ genannt wird. Sein alter Frontmantel ist ihm zu abgenutzt, denn auch Kapitulationsverhandlungen brauchen Stil. Todesangst begleitet die beiden Männer auf ihrem Weg zur Zitadelle, denn nur zu oft wurden Parlamentäre trotz der weißen Fahne erschossen. Ein schlichtes „Hallo“ ist es, mit dem Gall die Gespräche einleitet.

Jung erklärt sich für Gespräche bereit und klettert ziemlich unorthodox über eine Strickleiter hinab zu den sowjetischen Abgesandten. „Ich würde ja kapitulieren“, lässt er die Parlamentäre wissen, jedoch sei mit dem Widerstand seiner Offiziere zu rechnen. So schlagen die beiden Sowjets vor, selbst hinaufzuklettern, um zu verhandeln.

Die deutschen Offiziere sind in zwei Lager gespalten

Woher sie bei aller Todesangst den Mut dafür nehmen, erklärt Gall später, das hätten sie selbst nicht gewusst. Bizarr aber, dass sich Gall beim Aufstieg zum „Fürstensaal“, wo die deutschen Offiziere auf die Parlamentäre warten, mehr Sorgen um die Sauberkeit seines neuen „Churchill-Mantels“ macht als um sein Leben, denn eine rußige Laterne versperrt beim Aufstieg seinen Weg.

Es zeigte sich, dass die deutschen Offiziere in zwei Lager gespalten sind. Die Einsichtigen können sich zunächst nicht gegen die Fanatiker durchsetzen, die noch immer bis zum letzten Blutstropfen kämpfen wollen. Ohne Rücksicht auf die vielen Zivilisten im Keller des Gemäuers. Die Verhandlungen bleiben ein zähes Ringen, bis Gall und Grischin schlussendlich den Deutschen ein Ultimatum stellen: Entweder die Zitadelle kapituliert innerhalb von drei Stunden oder sie wird angegriffen.

Wladimir Gall mit Alexandra Gräfin zu Dohna bei einer ZDF-Pressevorführung 2004
Wladimir Gall mit Alexandra Gräfin zu Dohna bei einer ZDF-Pressevorführung 2004Mauersberger/imago

Die ultimative Drohung zeigt Wirkung

Diese ultimative Drohung ist es, die auch bei den letzten Verfechtern des Widerstandes gegen die Russen wirkt. Die Zitadelle wird durch Jung und dessen Stellvertreter Koch übergeben, ohne dass ein Schuss fällt. Kein Soldat, kein Wissenschaftler und keine Zivilisten fallen mehr dem sinnlosen Kampf für Hitlerdeutschland zum Opfer. Übergriffe vonseiten der Rotarmisten gibt es nach Zeugenaussagen nicht, obgleich einige von ihnen durch die Gegend streifen, auf der Suche nach Alkohol. Die überlebenden Zivilisten können friedlich abziehen, die Militärs wortlos den Weg in die Gefangenschaft antreten. Für sie ist nun auch der Krieg zu Ende.

Zwei Männer der Roten Armee haben nach all den verheerenden Schlachten, die sie als junge Menschen miterleben mussten, bewiesen, dass es auch in schwierigen Situationen einen Ausweg geben kann. Die Zitadelle Spandau erzählt bis heute eine Geschichte davon.

Sabine Küster-Reeck ist freie Journalistin und lebt in Berlin und Brandenburg.

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