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Integration lässt sich nicht verordnen. Sie geschieht dort, wo Menschen Raum haben – zum Atmen, zum Begegnen, zum Sein. Für mich ist das Tempelhofer Feld genau so ein Ort. Ein Ort, an dem Unterschiede sichtbar sind und sich trotzdem niemand beweisen muss. Ein Ort, den wir gemeinsam verteidigen sollten. Nicht nur, weil er schön ist. Sondern weil er funktioniert.
2008 bin ich in den Schillerkiez eingezogen. Damals fragte ich meine „deutsche“ Bekanntschaft (oder besser gesagt: meine Freundinnen und Freunde ohne Migrationsgeschichte) was sie von der Gegend hielten. Ich war 28, alleinstehend und wollte mich natürlich sicher fühlen. „No-Go-Area“, sagten viele über das Gebiet oberhalb des Hermannplatzes. Doch das Angebot war einfach zu gut, also machte ich mich selbst auf den Weg, um mir ein eigenes Bild zu machen.

Als Kind lebte ich in Copacabana, einem wohlhabenden Viertel von Rio de Janeiro. Im Schillerkiez fühlte ich mich auf Anhieb sicherer. Die soziale Ungleichheit war hier damals noch längst nicht so sichtbar wie heute. Inzwischen sehe ich in Neukölln fast so viele wohnungslose Menschen wie in Copacabana. Nur: In Brasilien hat Armut eine deutlichere Hautfarbe.
Ein paar Monate nach meinem Umzug wurde das Tempelhofer Feld geschlossen. Damals kursierte das Gerücht, dass kurz zuvor einige politiknahe Personen in großem Stil Immobilien in der Umgebung aufgekauft hätten. Information aus erster Hand ist Macht. Nicht nur „die anderen“ sind korrupt.
Der Kiez wirkte trist. Erst mit der späteren Öffnung des Tempelhofer Felds wurde er durchmischter – und lebenswerter. Früher gab es hier eine Bäckerei, einen Supermarkt – und das war’s. Restaurants oder Cafés fand man höchstens an der Hermannstraße. Aber ab 2010 verwandelte sich der Kiez rasant.

Herrfurthstraße: Eine Fahrradzone voller Autos
Die Herrfurthstraße erinnert mich heute an eine Straße, die zum Strand führt: Die Menschenmenge passt kaum auf den Gehweg, sie läuft schon in der Mitte – hin und zurück und quer – mit Picknickkörben, Skateboards, Fahrrädern, Kindern, Musik. Mit allem, was man mit Freundinnen und Freunden oder der Familie teilt. Oder mit Menschen, die man vielleicht erst noch kennenlernen wird.
Dass heute noch immer Autos durch die Herrfurthstraße fahren dürfen, ist für mich ein Beweis dafür, dass Politik vor allem für eine privilegierte Minderheit gemacht wird. Die Herrfurthstraße als „Fahrradstraße“ zu bezeichnen, ist ein schlechter Witz: Hier wird täglich in zweiter Reihe geparkt und oft mit über 50 km/h durchgerast.
Betritt man das Feld, ist man plötzlich an einem Ort, an dem Unterschiede aufeinandertreffen und Begegnung ganz selbstverständlich, fast feierlich geschieht. Wenn es über 30 Grad heiß ist, sieht man nur wenige Menschen ohne Migrationsgeschichte, die sogenannten „Bio-Deutschen“. Zu heiß für sie.
Wenn die Temperaturen steigen, begegnet man vor allem Menschen mit Migrationsgeschichte – aus Lateinamerika, aus Afrika, Menschen, die in Flüchtlingsunterkünften leben, den „Flamencos“ auf dem Tablao, aber auch den Sportlerinnen und Sportlern aus der ganzen Stadt, die keinen Tag ohne Bewegung auslassen.
Unter 30 Grad ist alles gemischt. Die Menschenmenge hat Platz, und bei Sonnenschein herrscht eine Festivalstimmung, wie ich sie einst auf dem Fusion Festival der 2000er-Jahre erlebt habe – nur vielfältiger und ohne das ständige „Bum-bum-bum“. Demokratischer.

Das Tempelhofer Feld ist ein demokratischer Ort. Wir haben gemeinsam entschieden – ja, auch ich, denn ich wurde 2008 eingebürgert! – dass dieses Feld vollständig erhalten bleiben soll. Heute beherbergt es zahlreiche Initiativen auf seiner riesigen Fläche. Gerade deshalb ist es so wichtig: Viele von uns leben auf engem Raum. Viele von uns haben keinen Schrebergarten, kein eigenes Stück Grün, leben nicht in Grunewald. Viele können sich keinen Urlaub in der Ferne leisten. Viele von uns fahren Fahrrad, arbeiten die ganze Woche hart. Doch hier finden wir einen Ort, an dem wir Erlebnisse mit anderen teilen können. Ganz unkompliziert.
Hast du jemals von einer Massenschlägerei auf dem Tempelhofer Feld gehört? Ich nicht. Ich sehe dort Menschen mit einem Lächeln, die fragen, ob sie mitspielen dürfen. Oder ob jemand eine Gabel zum Ausleihen hat. Ich sehe Menschen, die unter freiem Himmel ihr Glück finden – und lernen, in einer vielfältigen Gesellschaft respektvoll miteinander zu leben. Ganz nebenbei gewöhnen wir uns daran, einen Ort friedlich zu teilen – und empfinden es schließlich als selbstverständlich. Die Idee, das Feld mit einer Randbebauung einzuzäunen – unter dem Vorwand „Wir brauchen Wohnungen“ – ist ein Einschnitt in eine demokratisch getroffene Entscheidung.
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Drei Millionen Euro wurden für einen Ideenwettbewerb ausgegeben – viel Geld, besonders wenn man bedenkt, wie knapp der Berliner Senat sonst bei Jugend-, Familien- und Bildungsarbeit kalkuliert. Diese Idee kann nur von mächtigen Menschen kommen, die das Feld nicht wirklich kennen – und nicht schätzen. Und wir wissen längst, für welche Portemonnaies diese Wohnungen gedacht sind.
Berlin braucht das Tempelhofer Feld. Hier integriert sich nicht die eine Gruppe in die andere – hier begegnen sich Menschen und wachsen zusammen. Hoch lebe das Tempelhofer Feld!


