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In Krisenzeiten spielt die Kommunikation von Risiken eine entscheidende Rolle. Warum dies gerade in der Corona-Krise nicht gut funktioniert hat, ist im Rahmen einer zukünftigen Aufarbeitung eine zentrale Frage. Leitfäden für Krisenkommunikation waren genügend vorhanden. Gerade die Erfahrungen aus der Corona-Krise könnten dabei helfen, die zukünftige Risikokommunikation zu verbessern und dazu beitragen, dass Krisen erst gar nicht entstehen.
Der Virologe Christian Drosten war während der Corona-Krise stark in die Risikokommunikation involviert. In einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen sagte er kürzlich: „Es gab zu Beginn der Pandemie einzelne Stimmen, die gesagt haben, Covid sei mit einer normalen Grippe vergleichbar – was soll also die ganze Panikmache? Heute wissen wir, dass das klare Fehleinschätzungen waren.“ Bezüglich der Gefährlichkeit des Coronavirus fände heute eine „Umdeutung“ statt: „Leider versuchen die gleichen Leute, die schon damals falsche Aussagen getroffen haben, jetzt, ihr öffentliches Image zu polieren.“
Ende April 2020 äußerte sich Drosten im Österreichischen Rundfunk und schätzte damals Covid-19 „10- bis 20-mal“ gefährlicher ein als die Influenza. Er hat dabei nicht nach Risikogruppen differenziert, obwohl bereits zu diesem Zeitpunkt klar war, dass das Risiko gesunder junger Menschen, an Covid-19 zu versterben, um mehr als den Faktor 10.000 niedriger ist als das von Bewohnern von Pflegeheimen, die fast zur Hälfte des Covid-Sterbegeschehens beitrugen. Es war aber auch eine klare Fehleinschätzung, wie eine im Dezember 2020 im British Medical Journal veröffentlichte Auswertung einer der größten Datenbanken in den USA zeigt. Verglichen mit der saisonalen Influenza war damals das Risiko, aufgrund von Covid-19 zu versterben, um das Fünffache und das Risiko einer Intensivversorgung um mehr als das Zweifache erhöht.

Es gibt keine universal gültige Risikobewertung
Ein Ansatz für die „objektive Berechnung“ eines Risikos ist das Produkt von Eintrittswahrscheinlichkeit (bezogen auf eine Zeiteinheit) eines Ereignisses und dem Schadensausmaß. Allerdings ist die Eintrittswahrscheinlichkeit von Risiken in der Regel schwer zu ermitteln. Zum Beispiel hat ein schwerer Unfall in einem Atomkraftwerk eine minimale Eintrittswahrscheinlichkeit, verursacht aber möglicherweise horrende Schäden. Hier ist eine Multiplikation so bedeutungslos wie das Produkt aus null und unendlich, das jeden Wert annehmen kann. Außerdem werden Schäden in diesem Ansatz häufig verengt, indem nur monetäre Folgen berücksichtigt und mittel- und langfristige gesundheitliche und psychosoziale Folgen, die schwer quantifizierbar sind, ausgeblendet werden. Selbst Experten kommen dann zu verschiedenen Einschätzungen von Risiken, weil sie unterschiedliche Präferenzen bei der Auswahl und Gewichtung von Schäden haben. Deshalb gibt es, in den Worten von Ulrich Beck, wohl kein „Rationalitätsmonopol der wissenschaftlichen Risikodefinition“.
Wenn Definition und Quantifizierung von Risiken bereits unter Experten umstritten sind, dann kommen in der Risikowahrnehmung der Bevölkerung weitere Faktoren hinzu, die diese erhöhen oder schwächen. Risiken werden insbesondere bei Gefahren, die außerhalb der eigenen Kontrolle liegen, als Bedrohungen wahrgenommen. Die Größenordnung dieser subjektiven „Bedrohung“ hängt von weiteren Faktoren ab, wie zum Beispiel der wahrgenommenen persönlichen Betroffenheit, der „Neuheit“ eines Risikos, das schwer einschätzbar und dadurch automatisch bedrohlicher erscheint, und nicht zuletzt von der Risikokommunikation. Die Corona-Pandemie, mit einem „neuen“, „unsichtbaren“ Virus, das „alle Menschen“ betrifft und „für alle“ Menschen „tödlich“ sein kann, wurde naturgemäß als besonders bedrohlich wahrgenommen.

Die Bewertung und Kommunikation von Risiken müssen gelernt werden
Jede Entscheidung ist eine Abwägung von Risiken. Egal, ob es um das eigene Gesundheitsverhalten und Krebsrisiken, die wirtschaftlichen Risiken bei einem Jobwechsel, die sozialen Risiken bei einer Eheschließung oder das Verhalten angesichts einer Pandemie geht. Der Umgang mit all diesen Risiken, ihren Eintrittswahrscheinlichkeiten, den ungewissen Folgen, das damit verbundene Gefahrenbewusstsein und die Fähigkeit zur Selbststeuerung setzt eine gewisse Risikokompetenz voraus. Studien zeigen immer wieder, dass die meisten von uns eine geringe Risikokompetenz aufweisen und Wahrscheinlichkeiten schlecht einschätzen können. Das beginnt schon bei der Unterscheidung von relativen und absoluten Risiken, dem Verständnis von Vor- und Nachteilen bestimmter, z. B. medizinischer Maßnahmen, oder der Beurteilung von Studienergebnissen.
Wenn es an Risikokompetenz mangelt, braucht es Institutionen, denen man bei der Kommunikation von Risiken vertrauen kann. Die gibt es! Zum Beispiel forscht das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) schon lange zu den „Formen und Folgen behördlicher Risikokommunikation“. Aber diese Expertise dringt nicht immer bis zur Zielgruppe, den Behörden und Politikern, durch.
Bereits vor über 20 Jahren hat die damalige Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg festgestellt, dass die Mehrheit der Bürger die staatlichen Behörden für nicht kompetent genug hält, um mit komplexen Risiken umzugehen. Damals wie heute gilt: Trotz jahrzehntelanger Forschung in Risikoanalysen und -wahrnehmung „fehlt uns noch immer ein umfassendes Konzept der gesellschaftlichen Erfahrung von Risiko, d. h. der sozialen Verarbeitung von Unsicherheit in einer komplexen Gesellschaft.“ In der Corona-Pandemie hat sich diese Annahme nicht nur bestätigt, sondern die „Risikokommunikation“ wurde von der Politik instrumentalisiert. Umso wichtiger wäre es, diese gesamtgesellschaftliche und von Politikern als „Jahrhundertereignis“ bezeichnete Krise für eine Verbesserung der Risikokommunikation zu nutzen.
Es wäre schon viel gewonnen, einen Vorschlag des Risikoforschers Ortwin Renn zu beherzigen und das Absurde vom Möglichen, das Mögliche vom Wahrscheinlichen und das Wahrscheinliche vom Sicheren zu trennen. Beispiel Corona: Die Labor-Hypothese zum Ursprung der Pandemie mag nicht sicher, nach jetzigem Wissensstand aber durchaus möglich sein. Umso problematischer ist es, dass sie im Februar 2020 als Verschwörungstheorie bezeichnet wurde.

Fallbeispiele misslungener Risikokommunikation
In den Vorbemerkungen des im August 2014 vom Bundesministerium des Innern herausgegebenen Leitfaden Krisenkommunikation steht: „In Krisen ist es erforderlich, bei allen Verantwortlichen den gleichen Informations- und Wissensstand sicherzustellen sowie Medien und Bevölkerung möglichst umfassend, aktuell, widerspruchsfrei und wahrheitsgemäß zu informieren“. Umso absurder ist es, dass genau dieses Ministerium im März 2020 ein Strategiepapier mit dem Titel „Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen“ verfasst hat, in dem es ganz bewusst darum ging, mit Fehlinformationen „die gewünschte Schockwirkung zu erzielen“. Der mitbeteiligte Soziologe Heinz Bude meinte im Rückblick, sie hätten „ein Modell finden müssen, um Folgebereitschaft herzustellen, das so ein bisschen wissenschaftsähnlich ist“. Eine seltsame Auffassung der Funktion von Risikokommunikation.
„Risikokommunikation ist ein (häufig längerfristiger) Prozess, der – bezogen auf gesundheitliche Risiken – über den Zusammenhang zwischen gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen und den daraus resultierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen, Schädigungen oder Erkrankungen informiert“, steht zu den fachlichen Grundlagen der Risiko- und Krisenkommunikation in dem vom Robert-Koch Institut (RKI) erstellten und 2016 überarbeiteten Nationalen Pandemieplan Deutschlands. Bleibt die Frage, ob das RKI und seine Leitung diesen Standard erfüllt haben?
So meinte der RKI-Präsident Lothar Wieler öffentlich in Bezug auf Abstandhalten, Händewaschen und Tragen einer Mund-Nasen-Schutzmaske: „Diese Regeln werden wir noch monatelang einhalten müssen. Die müssen also der Standard sein. Die dürfen nie hinterfragt werden. Das sollten wir einfach so tun.“ Und zwar alle 83 Millionen Bundesbürger. Wieler unterzeichnete Ende Dezember 2020 auch ein Positionspapier mit dem Aufruf, die Zahl der Corona-Infektionen schnell zu senken „Nur so lasse sich die Ausbreitung des Virus nachhaltig eindämmen“.
Die No-Covid-Strategie
„Dafür sind durchgreifende Interventionen wie Lockdowns nötig. Dabei solle man nicht über einzelne Maßnahmen wie etwa Schulschließungen oder Einschränkungen im Arbeitsumfeld, im privaten Bereich oder im öffentlichen Verkehr diskutieren, sondern alle Maßnahmen umsetzen“, sagte die Mitunterzeichnerin und Physikerin Viola Priesemann. Heute wissen wir, dass diese No-Covid-Strategie niemals realistisch war und einen massiven gesellschaftlichen Schaden verursacht hätte.
Die Beispiele fragwürdiger Risikokommunikation des ehemaligen SPD-Gesundheitsexperten und jetzigen Gesundheitsministers Karl Lauterbach würden ein ganzes Buch füllen. An dieser Stelle zwei exemplarische. Mitte September schrieb er auf Twitter (heute X): „Die Wirkung der 3. Biontech Impfung fällt deutlich stärker aus als von vielen Experten erwartet. Mehr als 10-facher Schutz gegen Infektion oder schwere Krankheit.“ Viele verstanden darunter, dass der zusätzliche Schutz der dritten Impfung ein Zehnfaches des schon bestehenden Schutzes ausmache. Die zugehörige „Unstatistik des Monats“ macht deutlich, wie hier relative und absolute Risiken, bewusst oder unbewusst, irreführend kommuniziert wurden.

Ende Juli 2022 twittert Lauterbach: „Für alle, die noch immer im Unklaren sind, ob Masken gegen Covid schützen: hier eine neue amerikanische Mega-Studie, die über 1700 Studien auswertet. Der Nutzen der Masken ist sehr groß, unumstritten und gilt für viele Bereiche.“ Die von ihm zitierte „Mega-Studie“ ist ein Preprint, der niemals veröffentlicht wurde, nur 13 von 1700 relevanten Studien einschloss, davon eine aus dem Jahr 2004. Trotzdem verbreitete sich dieser Unsinn wie ein Lauffeuer.
Was können wir daraus lernen?
Zwei Jahre nach Beginn der Pandemie hat ein Expertenrat der Bundesregierung auf grundlegende Aspekte der Risiko- und Gesundheitskommunikation hingewiesen, die schon längst vorher hätten bekannt sein können. Unter dem Titel „Zur Notwendigkeit evidenzbasierter Risiko- und Gesundheitskommunikation“ wurde u. a. gefordert, das jeweils beste verfügbare Wissen adressatengerecht zu kommunizieren. Ziele der Kommunikation „sollen Aufklärung und nicht Werbung oder Persuasion (‚Überreden‘) sein.“ Eigentlich Selbstverständlichkeiten. Aber wenn dies ein Expertenrat fordert, weist das darauf hin, dass in der Vergangenheit diese Selbstverständlichkeiten ignoriert worden sind.
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Leitlinien für eine professionelle Risikokommunikation waren schon vor Corona vorhanden. Bei einer Aufarbeitung der Corona-Pandemiemaßnahmen muss die evidenzbasierte Risikokommunikation ein zentrales Thema sein. Aber kann man angesichts der chronischen Missachtung der vielen vorhandenen Leitlinien und Standards in der Vergangenheit hoffen, dass sie in Zukunft die Grundlagen der Risikokommunikation bilden werden? Oder werden sie in der nächsten Krise wieder ignoriert?
Dr. rer. nat. Marc-Denis Weitze ist Privatdozent für Wissenschaftskommunikation (TU München) und arbeitet für eine Wissenschaftsorganisation. 2023 ist sein Buch „Corona-Kommunikation: Eine Krise in Wissenschaft, Politik und Medien“ im Springer-Verlag erschienen.
Dr. med. Martin Sprenger MPH ist Arzt und Public Health Experte und leitet seit 2010 den Universitätslehrgang Public Health an der Medizinischen Universität Graz. Im März 2020 war er Mitglied der Corona-Taskforce des österreichischen Gesundheitsministeriums.
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