Mit 28 war ich mit einem grünen Simoncelli-Rennrad einer von etwa 2000 Messengern in New York. Damals fuhr man als Messenger fast ausschließlich Mountainbike. Die Einzigen auf schnellen Maschinen waren noch ein paar Schwarze, die auf Fixies durch die Straßenschluchten hetzten. Wir kannten uns und lieferten uns, wenn wir merkten, dass wir dasselbe Ziel hatten, gerne unabgesprochene Hochrisiko-Rennen. Zu Arbeitsbeginn gab es für alle eine Prise Koks, die Mortalitätsrate war enorm hoch und für die Polizei hatte man einen gefälschten Ausweis dabei.
Ein ganzes Leben auf dem Rad schüttelt man nicht so leicht ab, aus mir wird kein braver Radfahrer mehr. Auch heute fahre ich immer maximal schnell und rote Ampeln gelten für mich eher als Empfehlungen. Welche Gefahr soll denn auch von einem Radfahrer (bei einigermaßen umsichtiger Fahrweise und rechtsabbiegend) für andere ausgehen? Ich besitze schon lange kein Auto mehr, fahre 24/7, egal ob es regnet oder schneit, aber trotzdem lernt man mit der Zeit natürlich einiges dazu: Man ist als Radfahrer nun einmal der Schwächere und muss extrem vorausschauend fahren.
Das heißt, ich bestehe niemals auf mein Recht. Man nimmt mir die Vorfahrt? Egal, dann bremse ich eben. Unübersichtliche Kreuzungen? Dann ist eine rote Ampel eben eine rote Ampel. Vor Fußgängern fährt man niemals durch, man wartet. Wenn, dann fährt man immer hinter ihnen durch. Bürgersteige sind tabu – es könnte ja jemand aus dem Haus kommen. Erst Fußgänger, dann Fahrräder, dann Autos, das ist meine Reihenfolge. Generell achte ich immer darauf, dass ich gesehen werde. Was bringt es mir, das Recht auf Geradeausfahrt zu haben, wenn mich dann ein Rechtsabbieger überrollt?
In NY hielt einmal ein Wagen in zweiter Reihe vor mir, der Fahrer öffnete die Türe und ich wurde klassisch „gedoort“. Mein Fahrrad war Schrott, seine Tür aus den Angeln gerissen, mir passierte glücklicherweise nichts. Speziell an haltenden Taxis fährt man nie rechts, sondern immer links vorbei. Licht! Ganz wichtig vor allem das Rücklicht – man muss gesehen werden. Auch Reflektoren sind nicht nur Vorschrift, sondern sehr sinnvoll. Ebenso wichtig: Absichtserklärungen machen – Handzeichen (beziehungsweise Blinken!).
Das Wichtigste ist aber, sich in den anderen hineinzuversetzen. Rücksicht zu nehmen und Fehler zu verzeihen. Als Fahrradfahrer hat man eine blendende Übersicht (und hört gut!), es fehlt nur die Sicht nach hinten, aber man kann sich umdrehen. Als Autofahrer sieht man viel weniger, im Transporter ist es noch schlechter, und man ist deutlich schneller. Lkw-Fahrer haben zur miserablen Sicht auch noch Lieferstress, sind zudem mäßig bis schlecht bezahlt.
Die meisten Lkw-Unfälle mit Radfahrern wären vermeidbar gewesen
Ich beharre doch gegenüber einem Lkw nicht auf „meinem Recht“, nur weil ich ihn selbst gut sehen kann. So bitter das sein mag: Ich denke, die meisten Lkw-Unfälle mit Radfahrern wären vermeidbar gewesen, wenn man selbst etwas zurückgesteckt hätte. Autofahrer müssen nicht nur auf Radfahrer achten, sondern noch auf andere Verkehrsteilnehmer und sind dazu deutlich schneller. Taxifahrer müssen eben auch irgendwo halten und aussteigende Fahrgäste denken nun mal nicht immer als Erstes daran, dass da vielleicht gerade ein Radfahrer ankommt.
Liebe Autofahrer: Auf dem Fahrrad sind wir die Schwächeren, ihr müsst nur mit der Fußspitze zucken und schon kann gebremst und beschleunigt werden – wir müssen echte Muskelkraft aufwenden. Ihr sitzt immer im Trockenen, wir oft auch im Regen. Wir nehmen keine Parkplätze weg, halten die Straßen leerer, die Luft sauberer und machen keinen Krach. Wir bewegen unsere 70 bis 80 Kilogramm mit gerade einmal 14 Kilogramm Materialeinsatz – ihr braucht über eine Tonne Blech und Plastik, um das zu schaffen. Wenn es gerecht zuginge, müssten nicht WIR um Straßenraum betteln, sondern IHR!
Wir haben fast nie Abbiegespuren, sondern müssen zum Linksabbiegen zweimal an Ampeln stehen. Wir möchten nur auch unseren Teil der Straße, einen ganz kleinen. Die oft nur ein paar Meter gestrichelte Linie an Ampeln sind keine „Fahrradempfehlungsstreifen“ ohne jedwede verkehrsrechtliche Bedeutung, wie mir unlängst jemand zu erklären versuchte, sondern Fahrradschutzstreifen. Sie dürfen nur in Ausnahmefällen überfahren werden und sind meist alles, was wir bekommen, um dort einigermaßen sicher am Straßenverkehr teilhaben zu dürfen.
Vieles könnte auch schon durch einfachste Maßnahmen besser werden, das Einfärben der Schutzstreifen und Fahrradwege ist ein erster Schritt. Die reinen Fahrradstraßen wie etwa auf der Holzmarktstraße sind gut, aber die Zufahrten darauf oft kläglich – winzige Schutzstreifen, die meist keine Beachtung finden und an denen man sich mühsam irgendwie um die Fahrzeuge herumdrängeln muss.
In anderen Worten: Man ist gerade so geduldet, hat auf der Straße aber eigentlich nicht wirklich was zu suchen. In Kopenhagen oder Amsterdam ist man da Jahrzehnte weiter als Berlin. In Edinburgh gibt es an den Ampeln vor den Autos eine eingefärbte Schutzzone über die gesamte Breite der Fahrspuren. Dadurch kann man auf der Fahrradspur vorfahren, sich dort vor den Fahrzeugen an die Ampel stellen und dann gefahrlos in alle Richtungen abbiegen. Aber das sind nur Details.
Verkehrswende durch bessere Bedingungen für Fußgänger und Radfahrer
Die viel zitierte Verkehrs- und Klimawende wird nur gelingen, wenn der Kfz-Verkehr ab- statt wie aktuell permanent zunimmt. Dazu muss der Straßenraum viel gleichberechtigter und letztlich eben zuungunsten des motorisierten Verkehrs aufgeteilt werden. In anderen Ländern gibt es nicht das heilige deutsche Geburtsrecht auf unbegrenzte freie Fahrt für freie Bürger mit den niedrigsten Verkehrsstrafen in Europa und quasi Umsonststellplätzen für Anwohner.
Unlängst las ich in der Springer-Presse, man müsse unbedingt MEHR Parkraum in Berlin schaffen, damit die Leute das Auto stehen lassen können. Ernsthaft. Immer noch gilt in Deutschland die längstens widerlegte Ansicht: Man muss nur nette Angebote machen, dann werden die Leute schon von selbst umsteigen. 9-Euro-Ticket? Außer gigantischen Ausgaben hat es erwiesenermaßen wenig gebracht. Fast kein Autofahrer ist dauerhaft auf den öffentlichen Verkehr umgestiegen.
Nur weniger Straßen und Parkplätze und bessere Bedingungen für Fußgänger und Fahrradfahrer bedeuten letztlich weniger Kfz. Anwohnerparken massiv verteuern und die Einnahmen zweckgebunden in den öffentlichen Verkehr stecken, so bewegt sich etwas. Und mal ganz ehrlich: Das Gejammer von den Pendlern, den Handwerkern, den Familien, die alle natürlich unbedingt auf das Auto angewiesen sind – ich kann es nicht mehr hören. In meiner Straße wird die Hälfte der Fahrzeuge tage- bis wochenlang überhaupt nicht bewegt!
Man kann nur hoffen, dass die nächste politische Generation hier endlich radikal umdenkt, die aktuelle macht ihren Job diesbezüglich sicher nicht. Berlin ist unter den fahrradfreundlichsten Städten jedenfalls inzwischen aus den Top 10 auf Rang 19 abgerutscht.
Daniel Wenk, freischaffender Künstler, ist über New York, Moskau, Mailand, Chicago, Paris und Sao Paulo letztlich vor etwa 20 Jahren mehr oder weniger zufällig nach Berlin gespült worden.



