„Zündet die Parteikomitees nicht an, gründet eigene“ lautet das bis heute wohl bekannteste Zitat von Jacek Kuroń. Er war einer der Gründungsväter der Solidarnosc, welche vor 43 Jahren im Zuge der Auguststreiks und der Danziger Vereinbarungen gegründet wurde. Sie war eine polnische, gegen die kommunistische Herrschaftspartei gerichtete Gewerkschaft, die jedoch so viel mehr war als nur das.
Vom großen französischen Soziologen Alain Touraine als eines der wichtigsten Phänomene des 20. Jahrhunderts bezeichnet, umfasste sie zeitweise fast die ganze polnische Gesellschaft. Daraus speiste sich auch ihr einzigartig pluralistischer ideeller Kern. Gläubige, Atheisten, Linke, Rechte, Sozialdemokraten, Konservative, bisweilen gar Libertäre: Sie alle fanden unter dem Label der Solidarnosc zusammen und mussten lernen, miteinander auszukommen.
Immer wieder verstand sie es, Druck auf die kommunistische Partei (PZPR) auszuüben und ihr Zugeständnisse abzugewinnen, ohne dabei in die Logik der Gewalt abzugleiten, was die wichtige polnische Soziologin Jadwiga Staniszkis dazu veranlasste, den Modus Operandi der Solidarnosc als „sich selbst beschränkende Revolution“ zu bezeichnen. „Ihr Freiheitswille hat die Steine ins Rollen gebracht, die letztlich die Berliner Mauer und den Eisernen Vorhang zu Fall brachten“ lautet hingegen ein Zitat der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, welche damit eine weit verbreitete Meinung ausdrückte. Gerade in Zeiten von Social Media, Echo Chambers und toxischer Polarisierung, wohin das Auge reicht, können wir viel von der Solidarnosc lernen!

Jacek Kuron: Aktivistischer Drang
Als einer der führenden Köpfe der demokratischen Opposition in Polen war Kuron maßgeblich an der Entstehung der Solidarnosc beteiligt, als Mensch war er charakterologisch ähnlich facettenreich wie sie: Jacek Kuron war ein Bürgerrechtler sondergleichen, Pädagoge, Publizist, Historiker, Mitbegründer des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter, Wegbereiter der heutigen ausgezeichneten polnisch-ukrainischen Beziehungen, jemand der von Vertretern aller politische Richtungen Respekt erfuhr, aber bisweilen auch sehr hart mit sich selbst ins Gericht ging.

Nachdem sein Geburtsort nach dem Zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion annektiert wurde, zogen seine Eltern 1946 in einen Stadtteil Warschaus, welcher Kenner der polnischen Opposition gut bekannt sein dürfte, nämlich nach Zoliborz, der Hort der politischen Sozialisation solch illustrer Persönlichkeiten wie Adam Michnik oder auch Jaroslaw Kaczynski. Sein aktivistischer Drang machte sich schon früh bemerkbar, als er 1949 zunächst der sozialistischen Jugendorganisation „Bund der Polnischen Jugend“ beitrat und einige Jahre später hauptamtlicher Funktionär wurde. Er wurde auch Mitglied der kommunistischen Regierungspartei PZPR, wo er nach einigen kritischen Äußerungen zunächst zwar ausgestoßen, 1956 jedoch wieder aufgenommen wurde. Eine wichtige Zäsur seiner politischen Laufbahn markierte die Gründung der Pfandfindergruppe „Walterowcy“ („Walteristen“), benannt nach dem bolschewistischen General Walter.
Lehren des sowjetischen Pädagogen Anton Makarenko
Gerade diese Lebensphase von Kuron ist sicherlich die kontroverseste. Es wurde ihm angelastet, bei der Stalinisierung der polnischen Pfadfinderschaft selbst Hand angelegt zu haben. Schließlich verfolgten die kommunistischen Pfadfinderbewegungen das Ziel, die patriotische Pfadfinderschaft und die Scout-Organisationen, die im Vorkriegspolen entstanden waren, zu ersetzen und die Erinnerung an sie auszulöschen. Patriotische Volkslieder wurden durch sowjetisch-revolutionäre Lieder ersetzt, was auch einmal sein enger politischer Weggefährte und Mitglied der Walteristen Adam Michnik zugab.
Das pädagogische Programm basierte auf den Lehren des sowjetischen Pädagogen Anton Makarenko, welcher das System der „kommunistischen Erziehung“ entwickelte und die Idee von auf dem Prinzip der Selbstverwaltung aufgebauten pädagogischen Kollektiven propagierte. Die offiziellen Ziele des walteristischen Kollektivs waren zwar die Stärkung des Individuums und seines unabhängigen intellektuellen Potenzials, insgesamt waren diese programmatischen Grundpfeiler dennoch in einem erzkollektivistischen Ansatz eingebettet.
Wichtiger Protestbrief
Die Kuron-Biografie „Jacek“ aus der Feder der beiden Gazeta-Wyborcza-Journalistinnen Anna Bikont und Helena Luczywo legt jedenfalls nahe, dass Kurons Denkschemata aus dieser Zeit doch stark vom „hegelschen Biss“, so ein Begriff von Czeslaw Milosz, geprägt waren. Der Kult des von den Walteristen gepredigten unabhängigen Denkens war keiner Popper’schen Ergebnisoffenheit verpflichtet, sondern sollte letzten Endes einen „neuen Menschen“ hervorbringen. Mitglieder der Walteristen waren auch andere, später höchst prominente Persönlichkeiten des polnischen liberalen Kommentariats wie Seweryn Blumsztajn oder, wie oben bereits erwähnt, der Chefredakteur der Gazeta Wyborcza Adam Michnik.

1961 war es der kommunistischen Regierungspartei PZPR dennoch zu viel und so wurden die Walteristen wegen zu hoher Autonomieansprüche aufgelöst.
Die nächste wichtige Lebensstation von Jacek Kuron ist mit der Veröffentlichung des „Offenen Brief[es] an die Mitglieder der Grundorganisation der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei und die Mitglieder der Hochschulorganisation des Verbandes Sozialistischer Jugend an der Warschauer Universität“ in Verbindung zu setzen.
Arbeiterräte und Meinungsfreiheit
Zusammen mit Karol Modzelewski angefertigt und mithilfe von Adam Michnik verbreitet, kritisierte dieses Dokument die Regierungspartei PZPR aus einer revisionistisch-marxistischen Perspektive, die das linke Selbstverständnis der Partei infrage stellte. Sie habe sich in eine entfremdete Bürokratie verwandelt und die Produktionsmittel monopolisiert, wodurch sie nun die Rolle der Kapitalisten eingenommen habe und die Arbeiterklasse ausbeute. Sie interessiere sich nur noch für den Machterhalt und die Verteidigung der eigenen wirtschaftlichen Interessen. Was wäre jetzt zu tun? Die Herbeiführung einer weiteren Revolution sei unausweichlich. Sie hätte das Ziel, eine Diktatur des Proletariats einzuführen, die diesen Namen auch verdient.
Arbeiterräte und Meinungsfreiheit sollten ein unabdingbares Element dieses neuen Systems darstellen ebenso wie ein Zweiparteiensystem. Der Brief monierte auch eine zu große Offenheit und Pragmatismus in Bezug auf die Kirche und manche konservative Kreise. Das Dokument sollte eigentlich hinter verdeckter Hand vertrieben werden, aber es kam alles anders und so wurde Kuron im Anschluss daran zum ersten Mal vom kommunistischen Geheimdienst SB für 48 Stunden verhaftet und zum zweiten Mal aus der kommunistischen Regierungspartei PZPR ausgeschlossen. 1965 wurde er zu drei Jahren Haft verurteilt, 1967 aber wieder entlassen.
Immer wieder verhaftet
1968 war er zusammen mit Karol Modzelewski Mitinitiator der Studentenproteste, die dann in den sogenannten März-Ereignissen mündeten. Er wurde relativ früh, bereits am 8. März, verhaftet und verfolgte das weitere Geschehen aus dem Gefängnis heraus. Es folgte eine Massenmobilisierung der Gesellschaft. Die Proteste fanden in ganz Polen statt, und es beteiligten sich, entgegen einer früheren, allzu engen Lesart der März-Ereignisse, nicht etwa nur die Intelligenz, sondern alle gesellschaftlichen Klassen. Kuron wurde zu dieser Zeit offiziell in einer bekannten Rede von Wladyslaw Gomulka als „Unruhestifter“ verunglimpft, dessen Machtübernahme er ursprünglich begrüßt hatte – die Hoffnung hegend, Gomulka würde die antibürokratische Mobilisierung aus dem Jahre 1956, als es zum ersten Generalstreik in der kommunistischen Volksrepublik gekommen war, am Herzen liegen. Jacek Kuron wurde 1969 ein weiteres Mal verhaftet. Das Urteil lautete dieses Mal dreieinhalb Jahre, von denen er zwei Jahre absaß.

In der legendären Kultura, der wichtigsten Zeitschrift der polnischen Emigration, veröffentlichte Kuron 1974 anonym den Artikel „Die politische Opposition in Polen“, in dem sich ein Perspektivenwechsel bemerkbar machte, den der Historiker Dariusz Gawin in seinem Buch „Die Große Kehrtwende“ („Wielki Zwrot“) analysierte. Innerhalb der sog. laizistischen Opposition nahm eine liberale, den Wert von universalen Werten und Menschenrechten hervorhebende Sichtweise zunehmend den Platz der ehemals revisionistisch-marxistischen Paradigmen ein. Ein klarer Startpunkt dieser Entwicklung lässt sich ob ihres evolutionären Kerns nur schwerlich ausmachen.
Offene Tür als Zeichen der transparenten Kommunikation
In dem besagten Artikel fand auch der Begriff Totalitarismus mehrere Male Verwendung – definitiv ein Novum. Politischer Pluralismus wurde gefordert wie auch der Aufbau einer Gegenöffentlichkeit und halboffizieller Organisationen, welche die äußerst beschränkten Handlungsräume, die das damalige Rechtssystem bot, vollends ausschöpfen sollten. Zwei Jahre später formulierte Kuron Überlegungen, die den Erwartungshorizont der Opposition in den nächsten Jahren prägen sollten. Eine unabhängige Zivilgesellschaft sollte sich formieren, um möglichst viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens vom Einfluss der Partei, aber auch der UdSSR, freizuhalten. Ferner müsse man ein gemeinsames Bewusstsein zwischen der Arbeiterschicht, den Studenten und der Intelligenz schaffen und vorsichtig, d.h. schrittweise, vorgehen, um die UdSSR nicht zu einer Intervention zu provozieren.

1976 war es denn so weit: Das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter wurde gegründet. Dabei war Jacek Kuron mehr als nur ein prominenter Mitgründer, denn es war seiner visionären Vorstellungskraft geschuldet, dass er – zusammen mit Antoni Macierewicz, Piotr Naimski und Jan Józef Lipinski – zunächst 14 Unterstützer für den von Antoni Macierewicz verfassten „Appell an die Gesellschaft und die Machthaber der PRL“ gewinnen konnte. Dieser war eine Reaktion auf die Repressalien gegen die Arbeiter in Radom, Ursus und anderen Orten und beinhaltete die Forderung nach „Solidarität und gegenseitiger Hilfe“ in der Gesellschaft. Die oben nachgezeichneten Überlegungen zur Rolle und Bedeutung der Opposition von Jacek Kuron fanden nun institutionellen Ausdruck. Er gehörte zu den aktivsten Mitgliedern und informierte regelmäßig den Westen über die aktuellen Geschehnisse. Legendär war auch die allen Oppositionsmitgliedern bekannte Telefonnummer 39 39 64. Jacek Kuron war Tag und Nacht für alle erreichbar, ein Organisator, Vermittler und Anlaufstelle für den Informationsaustausch innerhalb der gesamten Opposition in einem. Dies blieb auch später so, wie man den Worten des bekannten Vertreters der Opposition Jan Jakub Wygnanski entnehmen kann: „Ich konnte es beobachten, weil meine Frau und damalige Verlobte eine Nachbarin der Kurons war. Die Tür ihrer Wohnung im Erdgeschoss des Blocks der Wohnungsgenossenschaft an der Mickiewicz-Straße war immer offen. Jeder durfte hineingehen. Und es ging jeder hinein. Man hat sich dort hineingequetscht wie heute in eine Hipster-Kneipe. Jacek störte es meistens nicht.“
Notwendigkeit der wirtschaftlichen Reformen
In den nächsten Jahren beteiligte sich Jacek Kuron an der Verbreitung von Informationen über die politische Lage. Er dokumentierte Fälle von politischer Repression, Arbeiterstreiks, die Rolle der Gewerkschaftskomitees und die „fliegenden“ Universitäten. Publizistisch und organisatorisch bereitete er den Boden für die Erneuerung der Opposition, die Idee unabhängiger Gewerkschaften und den großen Streik vom August 1980.
Während der August-Streiks 1980 wurde er präventiv verhaftet, kam aber schnell wieder frei, um dann bald wieder während der Verhängung des Kriegsrechts drei Jahre lang inhaftiert zu werden.
Obwohl die kommunistischen Machthaber dies mit allen Mitteln zu verhindern versucht hatten, nahm er am sog. runden Tisch teil. Von 1989 bis 2001 war er Abgeordneter des polnischen Sejms, immer in den Reihen der liberalen Parteien, zunächst der Demokratischen Union, dann der 1994 gegründeten Freiheitsunion. 1991 brachte er sein wichtiges Buch „Wiara i Wina“ (Glauben und Schuld) heraus, in welchem er das kommunistische Engagement seiner Jugendjahre bereute – es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Jacek Kuron sich von seiner selbstkritischen Seite zeigte.

Nach der politischen Wende war er zweifacher Arbeits- und Sozialminister in den Regierungen von Tadeusz Mazowiecki und Hanna Suchocka. Sein links schlagendes Herz verspürte zwar Zweifel, aber er sprach dem sog. Balcerowicz-Plan (für die Unterdrückung der Inflation um jeden Preis, Privatisierungsmaßnahmen und die Währungsreform) seine Unterstützung aus und versuchte den „einfachen Menschen“ die Notwendigkeit der wirtschaftlichen Reformen in wöchentlichen Fernsehvorträgen zu erklären.
Gründung der Stiftung „Soziale Hilfe“
Anders als der typische „Berufspolitiker“ jener Zeit war Kuron häufig in seiner Jeansjacke und alltäglicher Kleidung zu sehen. Kuron bekam aus nächster Nähe die massive Wucht der wirtschaftlichen Umwälzungen und die rapide wachsende Arbeitslosigkeit mit. Regelmäßig begab er sich auf die Warschauer Straßen, um die Menschen mit Küchensuppe zu versorgen – der sog. „Kuroniówka“. Mit den Jahren wurde der Begriff häufiger mit der von ihm eingeführten minimalen Erwerbslosenhilfe in Verbindung gebracht. Jacek Kuron dominierte in diesen Jahren regelmäßig in den Vertrauensrankings, 1995 jedoch war er nicht in der Lage, dieses Kapital in einen achtbaren Erfolg bei den Präsidentschaftswahlen umzusetzen. Er wurde dritter hinter Lech Walęsa und Alexander Kwasniewski und erhielt lediglich 9,2 Prozent der Stimmen.
In der Zwischenzeit blieb Jacek Kuron auch zivilgesellschaftlich aktiv. Er gründete 1990 eine der ersten polnischen Nichtregierungsorganisationen, die Stiftung „Soziale Hilfe“ (SOS) . Ebenso war er ein Mitbegründer der Jan-Józef-Lipski-Universität. An dieser fand ein neunmonatiger Kurs für Jugendliche aus Familien statt, die materiell durch die Transformation den Boden unter den Füßen verloren hatten. Er war pädagogisch weiterhin sehr aktiv, aber seine Herangehensweise hätte unterschiedlicher zu der aus den 1950er-Jahren nicht sein können.
Kuron war immer menschlich
Kuron wollte in jungen Menschen vor allem zivilgesellschaftliche Qualitäten ausbilden und sie stärken, aber zugleich empathische Individuen hervorbringen, die die Hürden und Enttäuschungen des Lebens zu meistern in der Lage und ohne Ressentiment für eine menschliche Gesellschaft einzutreten bereit sind.
In seinen letzten Jahren überkam ihn eine Art Bitterkeit und Enttäuschung angesichts der damals sichtbaren Folgen der wirtschaftlichen Transformation und seiner Rolle darin. Die „Kuroniówka“ wurde häufig dafür kritisiert, dass sie eine Art Prothese war, die die wirtschaftlich-liberale Transformation in allen ihren Dimensionen stützte, anstatt systemische Reformen anzuvisieren. Gleiches galt für die von ihm eingeführte Erwerbslosenhilfe, welche manch einer gar mit den „Poor Laws“ aus dem Jahre 1834 verglich.

Er wendete sich verstärkt anti-globalistischen Milieus zu, in seinen Überlegungen konnte man Thesen und Ansichten herauslesen, für die z.B. das Monatsmagazin Le Monde Diplomatique bekannt ist. So auch in seinem letzten Buch „Rzeczpospolita moim wnukom“ („Die Republik für meine Enkel“).
Bis zu seinem Krebstod erfreute er sich des Respekts eines breiten weltanschaulichen Spektrums, bekannt sind auch die Worte des konservativen Publizisten Bronislaw Wildstein, welcher immer das Menschliche in Jacek Kuron hervorhebte. Vielleicht ist das die beste Bezeichnung für Jacek Kuron: menschlich.
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