Open Source

Als Mediziner in Ost und West: Was können wir von der DDR lernen?

Hatte das Gesundheitssystem der DDR auch Vorteile? Unser Autor, Herzchirurg, hat vor und nach der Wende praktiziert. Hier teilt er seine Erfahrungen.

Untersuchung von Kindern in der DDR
Untersuchung von Kindern in der DDRWerner Schulze/imago

Am 9. November 1989 reiste ich gleich zweimal über die innerdeutsche Grenze in Berlin. Das erste Mal am Morgen, mithilfe eines ordentlichen Reisepasses über den Palast der Tränen am Bahnhof Friedrichstraße. Ich reiste zu einer mit Professor Hetzer, damals Chefchirurg des Deutschen Herzzentrums Berlin, vereinbarten gemeinsamen Operation eines komplexen Herzfehlers bei einem Säugling, dessen Herzfehler in der Charité diagnostiziert worden war.

Zum zweiten Mal am Abend am Checkpoint Charlie in einer großen Menge Ostdeutscher, die in überschwänglicher Freude darüber waren, dass die verhasste Mauer in Berlin endlich Löcher bekam. Dieser Tag, der für viele Menschen, besonders in Ost-Berlin und der DDR, zunächst der Tag eines großen Glücksgefühls war, brachte in der Folge auch viele gravierende Veränderungen mit sich, speziell auch im Berufsleben. Leider führten diese nicht selten auch dazu, dass die anfängliche Euphorie einer Ernüchterung und Enttäuschung wich.

Auch für mich gab es wesentliche berufliche Veränderungen. Ich persönlich hatte nach meinem Medizinstudium in Jena seit 1963 an der Charité gearbeitet, dort zunächst eine Ausbildung zum Facharzt für Chirurgie und danach eine Spezialisierung zum Herzchirurgen absolviert. Durch meine zeitweilige Mitarbeit als beratender Chirurg an der Konzeption für den Neubau und die Rekonstruktion der Charité von 1976 bis 1982 hatte ich die Möglichkeit, obwohl nicht Parteigenosse, den Status eines Reisekaders zu erhalten.

Dies bedeutete, dass die Arbeitsgruppe zur Information verschiedene Neubauprojekte in der BRD und in westlichen Ländern besuchen konnte. Durch einen mehrmonatlichen Studienaufenthalt in den USA 1988 hatte ich auch die Möglichkeit, mich auf fachlichem Gebiet zu perfektionieren und zugleich Eindrücke vom Gesundheitssystem in westlichen Ländern zu sammeln. Ich habe darüber auch in meinem Buch „Ein Leben mit Herz“ berichtet.

1990: die gefallene Berliner Mauer nahe dem Brandenburger Tor, das Charité-Hochhaus im Hintergrund
1990: die gefallene Berliner Mauer nahe dem Brandenburger Tor, das Charité-Hochhaus im Hintergrundimago

Gesundheitswesen in der DDR: Eine komplett andere Struktur

Ich konnte so auch gute fachliche Kontakte zum Deutschen Herzzentrum Berlin anbahnen, was unter anderem auch die oben geschilderte Operation am 9. November 1989 ermöglichte. 1990 kam dann der große Umbruch für die Lebens- und Berufsumstände der meisten Bürger der DDR. Mir wurde die Aufgabe übertragen, am Klinikum in Berlin-Buch eine Klinik für Herzchirurgie aufzubauen.

Aus dieser entstand dann 1992 das Herzzentrum Brandenburg, zunächst in Berlin-Buch und ab 1998 in einem Krankenhaus-Neubau in Bernau angesiedelt. Die Anfangsjahre waren durch den Kampf mit der für uns „Ossis“ neuen Administration und Bürokratie um den Erhalt der Einrichtung gekennzeichnet. Es waren nervenaufreibende Jahre.

Ein direkter Vergleich des Gesundheitswesens der DDR und der Bundesrepublik scheint mir jetzt, viele Jahre nach dem Mauerfall, obsolet, da es die DDR nicht mehr gibt. Es ist aber doch bedenkenswert – zumal gerade wieder über eine Krankenhausreform in der Bundesrepublik heiß diskutiert wird – zu überlegen, welche Dinge aus dem Gesundheitswesen der DDR als positive Elemente angesehen werden können und vielleicht in Überlegungen zur weiteren Gestaltung der medizinischen Versorgung in unserem Lande bedacht werden sollten.

In der DDR wurden die nach 1945 zunächst gebildeten 5 Länder aufgelöst und stattdessen in 14 Bezirke und Ost-Berlin, also 15 Verwaltungseinheiten, aufgeteilt. Das Gesundheitswesen wurde zunächst von einem Staatssekretär für das Gesundheitswesen, später vom Gesundheitsminister geleitet. Ihm unterstanden die 15 Bezirksärzte, diesen wiederum die Kreisärzte, welche für das jeweilige Kreisgebiet zuständig waren.

2001: Herzchirurg Dr. Berndt Schubel (l.) auf Visite im Herzzentrum Buch
2001: Herzchirurg Dr. Berndt Schubel (l.) auf Visite im Herzzentrum Buchimago

Ausnahmestellungen hatten die Universitätskliniken, die dem Hoch- und Fachschulwesen unterstanden, und die Akademie-Institute, die direkt dem Ministerium unterstanden. Nachteilig ist zu bemerken, dass allen Organisationen noch hauptamtliche Funktionäre der SED zugeordnet waren, welche meist bei Entscheidungen – trotz geringerer Sachkenntnis – das letzte Wort hatten.

Harmonie zwischen stationärer und ambulanter Versorgung

Es handelte sich also um eine streng zentralisierte Struktur, die sich grundlegend von der jetzigen föderalistischen Struktur unterschied. Heute ist jedes Land für die medizinische Versorgung der Bürger des jeweiligen Landes verantwortlich. Der Gesundheitsminister gibt den Rahmen vor, die Umsetzung der Gesetze ist aber Landessache. Landesspezifische Belange können so besser berücksichtigt werden, aber in Zeiten einer akuten Bedrohung oder im Katastrophenfall (zum Beispiel die Corona-Pandemie!) lassen sich einheitliche Vorgaben und Richtlinien in einem zentralistisch organisierten Gesundheitssystem schneller und konsequenter durchsetzen.

Der gravierendste Unterschied zwischen beiden Systemen, der mir auffiel und mich irritierte, war die strikte Trennung des stationären vom ambulanten Versorgungsbereich. Krankenhausbereich und der Bereich der niedergelassenen Ärzte (KBV) standen und stehen sich weiterhin misstrauisch, um nicht zu sagen geradezu feindlich gegenüber. In der aktuellen Diskussion um die Krankenhausreform ist erneut ein wesentlicher Streitpunkt, wie umfangreich der Teil der ambulanten Versorgung durch Krankenhäuser sein sollte.

Minister Lauterbach wird eine krankenhausgesteuerte Ideologie vorgeworfen, die die Belange der niedergelassenen Ärzte und damit des ambulanten Sektors nicht adäquat berücksichtige. Dabei wäre die enge Verzahnung von stationär und ambulant so wichtig für die kontinuierliche Behandlung der Patienten. Es ist der alte Streit um die Existenz und Berechtigung der Polikliniken, die es in der DDR praktisch an jeder Klinik gab.

Letztlich geht es um die Verteilung des – immer zu knappen – Geldes. Und durch diesen Zwist zwischen stationärer und ambulanter Versorgung kommen die Ärzte und ihre Standesvertreter meist nicht zu einer einheitlichen Position, mit der sie geschlossen ihre Interessen (und die ihrer Patienten) gegenüber der Politik vertreten könnten.

Gemeinsame Leitlinien durch zentrale Erfassung

Es ist von Vorteil, wenn man für bestimmte Erkrankungen zentrale Erfassungen vornimmt und aus den Daten zu gemeinsamen Leitlinien und Therapievorschlägen kommt. Dies war in der DDR vor allem für Krebserkrankungen und den Diabetes mellitus einheitlich geregelt.

Die betroffenen Patienten wurden in einem einheitlichen System erfasst und entsprechend galten auch einheitliche Therapie-Richtlinien. Für den Diabetes gab es etwa in jedem Kreis eine Diabeteszentrale, bei der die Patienten gemeldet wurden und deren Therapie gesteuert wurde. Zudem wurden hier auch Sonderfälle behandelt, zum Beispiel bei Vorliegen einer Insulin-Intoleranz.

Sektionssaal an der Charité, Berlin
Sektionssaal an der Charité, Berlinimago

Darüber hinaus gab es ein Zentralinstitut, das eine enge Kooperation mit der WHO pflegte und so den internationalen Austausch beförderte. Ähnlich war es auch bei den Krebserkrankungen, die zentral erfasst wurden und für die es einheitliche Behandlungsstrategien gab. Dies ist heute auch durch entsprechende Zentren gut geregelt.

In der DDR galt die Vorschrift, dass alle Todesfälle, die in Kliniken eintraten, einer Autopsie unterzogen werden mussten, es sei denn, die Angehörigen hätten explizit widersprochen. Die Kenntnis über die wahren Todesursachen war damit weitgehend gesichert. Ich habe nach der Wende feststellen müssen, dass die Autopsie bei Todesfällen im Krankenhaus – meist aus Kostengründen – eher die Ausnahme war. Das halte ich für einen großen Mangel, denn da bleibt dann doch so manche Todesursache im Graubereich und nicht abschließend geklärt.

Es bleibt das Fazit, dass das Gesundheitswesen in der DDR ein zentral organisiertes System der Mangelverwaltung mit einigen positiven Aspekten war. Letztere sollte man aber nicht unberücksichtigt lassen, wenn man jetzt – wieder einmal – Reformen anstrebt. Vor allem würde ich mir wünschen, dass gerade auf diesem Gebiet der elementaren Daseinsvorsorge nicht primär die Verteilung des Geldes, sondern das Wohlergehen des einzelnen Menschen im Vordergrund der Überlegungen stehen würde.

Dr. Berndt Schubel ist Facharzt für Chirurgie und Herzchirurgie. 2022 erschien sein Buch „Ein Leben mit Herz“.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.