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„Friedvolle Elternschaft“: Wenn Kinder absichtlich ohne Vorschriften aufwachsen

Die Soziologin Ruth Abraham hat drei Kinder, die ohne Regeln aufwachsen. Funktioniert dieses ungewöhnliche Familienkonzept? Oder brauchen Kinder Regeln?

Brauchen Kinder Grenzen?
Brauchen Kinder Grenzen?United Archives

Es ist abends, 20 Uhr. Das Kleinkind ist müde und quengelt, aber es möchte noch nicht ins Bett gehen. Die Mutter oder der Vater hat noch eine dringende Mail zu schreiben und möchte, dass das Kind schläft. Solch eine Situation kennen alle Mütter und Väter. In den meisten Familien bestimmen die Eltern, wann das Kind ins Bett geht und wie. Nicht so bei Ruth Abraham. Die dreifache Mutter meint: In den allermeisten Situationen im Alltag bräuchten sich die Eltern nicht durchsetzen.

Für Abraham ist es unvorstellbar, ein Kind schlafen zu schicken, wenn dieses das nicht möchte. „Das ist den Druck nicht wert“, sagt sie. In der Situation würde sie dem Kind erst ein Buch vorlesen und dann anbieten, dass sich das Kind neben ihr auf der Bank in der Küche in eine Decke kuschelt, während sie ihre Arbeit erledigt. „Es gibt hundert Lösungen jenseits von Regeln“, sagt sie. Bei ihr zu Hause gibt es keine Regeln, keine Grenzen. Jedes Kind tut, was es möchte. Ruth Abraham glaubt nicht, dass sie ihre Kinder erziehen muss. Vielmehr lehnt sie das Konzept von Erziehung grundsätzlich ab.

Abraham hat das pädagogische Konzept „Unerzogen“, das seine Ursprünge in der Antipädagogik nach Ekkehard von Braunmühl in den 1970er-Jahren hat, für sich entdeckt und weiterentwickelt. Es gibt eine Vielzahl an Erziehungsstilen und Konzepten. Recht gut bekannt ist die antiautoritäre Erziehung, die ebenfalls in den 1970er-Jahren entstand und in der es darum ging, Kinder besonders kritisch Autoritätspersonen gegenüber zu erziehen. Während die antiautoritäre Erziehung als Erziehungsstil gilt, ist das in der „Unerzogen“-Bewegung anders. Das Ziel ist tatsächlich, Kinder nicht zu erziehen. Abraham nennt ihre Art des Zusammenlebens mit ihren Kindern „Friedvolle Elternschaft“ und bietet dazu Online-Kurse und einen Mitgliederbereich zum Austausch an. Rund 1200 Mütter und Väter tauschen sich dort darüber aus, wie sie ohne klassische Erziehungsmethoden Eltern sein können.

Wie erziehen die Deutschen ihre Kinder?

Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach hat sich 2020 mit Elternschaft befasst und rausgefunden, dass vielen Eltern die Vorbildfunktion in der Erziehung sehr wichtig ist (80 Prozent der Befragten). Die Orientierung auf die Bedürfnisse der Kinder hielt die Hälfte der Befragten für wichtig. Nur 27 Prozent der Eltern gaben an, sich von Regeln und Vorgaben in der Erziehung zu distanzieren. Über die Hälfte (56 Prozent) erklärte, Kinder sollten schon früh Pflichten, beispielsweise im Haushalt, übernehmen und nicht nur machen, was ihnen Spaß macht. 60 Prozent der Eltern sprachen sich für eine Erziehung nach klaren Regeln und Vorgaben aus.

Genau das kritisiert Abraham. Sie erklärt, dass hinter der gängigen Erziehungspraxis, in der Eltern Regeln aufstellen und diese ihren Kindern vorgeben, ein falsches Bild von Kindern stecke: „Es ist eine Unterstellung, dass Kinder von Natur aus unvollkommen, unvernünftig oder unsozial sind“, sagt sie. Sie spricht in diesem Zusammenhang vom „Adultismus“, also der Diskriminierung und Abwertung von Kindern und jüngeren Menschen aufgrund ihres Alters. Sie sieht viele Anzeichen solch einer Abwertung im Alltag, etwa wenn Erwachsene über Kinder lachen oder wenn sie Dinge sagen wie: „Hör auf damit, du benimmst dich ja wie ein Kleinkind.“ Für Abraham ist klar: Erwachsene wissen es nicht per se besser. Es sei falsch und vor allem ineffektiv und gemein, Kinder auf eine bestimmte Art erziehen und damit formen zu wollen.

„Es ist nicht gesund, Kinder ständig einpassen zu wollen“, erklärt Susanne Mierau. Sie ist Kleinkindpädagogin und Autorin. In ihrem Buch „Frei und unverbogen“ schreibt sie darüber, wie Eltern ihre Kinder ohne Druck begleiten und bedingungslos annehmen können. Im Sinne von Formung lehnt auch Mierau den Erziehungsbegriff ab. Die Vorstellungen davon, wie Kinder zu sein haben, seien in vielen Fällen falsch. „Wenn ein Kind im Restaurant eine Stunde still sitzen soll, ist das nicht gut für das Kind, vor allem wenn dann noch mit einer Strafe gedroht wird“, erklärt die Autorin und Mutter.

Mierau sieht durchaus Situationen, in denen ein Eingreifen der Eltern sinnvoll ist. „Wenn Kinder andere abwerten, bei Mobbing, dann sollten Eltern erziehend eingreifen“, erklärt die Fachfrau für Kleinkindpädagogik. Auch beim Konsumverhalten des Kindes braucht es Regulierung der Eltern. „Gerade in Bezug auf die Klimakrise ist es unsere Aufgabe, zu erklären, was wir anders machen müssen und dass wir eben nicht alles kaufen, was wir können“, sagt Mierau.

„Ein Ziel von Erziehung ist, dass wir die Kinder dabei begleiten, zu selbstbewussten und verantwortungsvollen Erwachsenen zu werden, die auch gut mit anderen auskommen“, erklärt Dorothea Jung. Die Sozialpädagogin hat über 20 Jahre Erfahrung damit, Eltern in Erziehungsfragen zu beraten. Ob die Eltern dabei von Erziehung sprechen oder sagen, sie würden ihr Kind beim Großwerden begleiten, sei nicht wichtig.

Was brauchen Kinder, um gut aufwachsen zu können?

Was brauchen Kinder, um gut aufwachsen zu können? Diese Frage beschäftigt viele Eltern. Abraham findet die Frage nicht gut. „Kinder brauchen genau das Gleiche, das Erwachsene auch brauchen: die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse.“ Die Unterscheidung in Kinder und Erwachsene in dieser Frage ist für Abraham adultistisch und wertet damit Kinder ab.

Entwicklungspsychologin Fabienne Becker-Stoll hat kein Problem mit der Frage, was Kinder brauchen, um gut aufwachsen zu können. Sie sagt: „Kinder brauchen Bezugspersonen, die für sie die sichere Basis sind, von der aus sie sich und die Umgebung erkunden können, und die als sicherer Hafen dienen, wenn Kinder überfordert sind.“ Die Leiterin des Bayerischen Staatsinstituts für Frühpädagogik und Medienkonzept verweist auf den sogenannten Kreislauf der Sicherheit, der die Bindung zwischen Eltern und Kindern in den Fokus rückt. Becker-Stoll zufolge bräuchten Kinder eine übersichtliche Umgebung, feste Rituale und einen klaren Tagesablauf – auch als Schutz vor Überforderung und Überreizung. „Das bedeutet auch, dass Eltern da, wo es nötig ist, die Leitung übernehmen und Grenzen setzen“, erklärt die Entwicklungspsychologin.

Brauchen Kinder Grenzen?

Autorin Mierau meint: „Kinder stoßen permanent auf Grenzen.“ Grenzen müssten nicht durch die Eltern künstlich hergestellt werden. „Das Kind wächst in einem sozialen Kontext auf mit anderen Menschen. Jeder Mensch hat Grenzen.“ Die Kinder müssten lernen, das zu berücksichtigen und zu respektieren.

Entwicklungspsychologin Becker-Stoll erklärt: „Die Grenze setze ich nicht, weil ich als Mutter eine Tyrannin bin.“ Es ginge um wichtige Dinge wie den Schutz vor Überreizung, vor zu viel Süßigkeiten oder zu viel Konsum von Medien. „Im Endeffekt geht es um das Wohlergehen des Kindes, körperlich und psychisch“, sagt sie.

Auch die Kinder von Ruth Abraham, die nicht erzogen werden, erleben, dass sie etwas tun müssen, das sie nicht möchten. Bei medizinischen Notwendigkeiten, etwa wenn ein Kind ein wichtiges Medikament nehmen müsse, setze Abraham das durch. „Ich habe ja eine Verantwortung für die Gesundheit meiner Kinder“, sagt sie. Auch in ihrer Familie gäbe es Auseinandersetzungen: „‚Friedvolle Elternschaft‘ ist nicht konfliktfreie Elternschaft“, erklärt die Mutter. Wenn Abraham und ihre Kinder unterschiedlicher Meinung seien, dann würde gestritten und um eine Lösung gerungen. „Was meine Kinder erleben, ist Widerstand. Da sagt jemand: Das möchte ich so nicht.“ Den Begriff Grenze lehnt die Mutter ab. „Ich kann für einen anderen Menschen keine Grenze setzen.“ Wenn Eltern das im Alltag täten, sei das oft ein Machtmissbrauch und letztendlich eine Gewaltanwendung, erklärt sie.

Ruth Abrahams Kinder sind sieben, zehn und 13 Jahre alt und gehen nicht zur Schule, weil sie es nicht möchten. Ein Kind habe das mal ausprobiert, fand es aber nicht gut, erklärt die 32-Jährige, die mit ihrer Familie in Portugal lebt. „Bildung gibt es auch außerhalb von Schule“, sagt Abraham. Für viele Eltern ist nach der Corona-Pandemie und der Erfahrung von Homeschooling die Vorstellung ein Graus, die Kinder selbst zu unterrichten. Abraham sagt, das sei nicht anstrengend. „Ich beschule meine Kinder nicht.“ Die Kinder würden lernen, was sie möchten. Und sie wüssten auch: Lesen und Schreiben brauchen sie, um mit Freund:innen Nachrichten zu schreiben oder ein Kuchenrezept zu lesen.

Entwicklungspsychologin Becker-Stoll sagt, Menschen bräuchten die Erfahrung der sozialen Zugehörigkeit zu einer Gruppe, das beginne in Kita und Schule. „Kinder haben ein Recht auf Bildung“, sagt Becker-Stoll. Wenn Kinder nicht zur Schule gehen, seien sie von Teilhabe und Bildung abgeschnitten. Abgesehen von der pädagogischen Fragestellung, ob Kinder in Kita und Schule gehen sollen, gibt es noch rein praktische Erwägungen: Die meisten Eltern sind berufstätig. „Der Verzicht auf Erziehung braucht relativ viele Ressourcen“, berichtet Abraham. Sie selbst hat wenig gearbeitet, als die Kinder klein waren. Auch der Vater war Vollzeit bei den Kindern zu Hause. Jetzt leben die Kinder im Wechselmodell bei ihr und dem Vater, von dem sie getrennt lebt. So kann sie arbeiten, wenn die Kinder beim Vater sind.

„Die richtige Erziehung“ gibt es nicht

Gibt es bei der Erziehung von Kindern richtig oder falsch? Dorothea Jung, die seit vielen Jahren Eltern in Erziehungsfragen berät, hat eine beruhigende Antwort: „Diese Frage kann ich nicht beantworten.“ Sie lacht. Denn: „Es gibt so viele Sichtweisen auf Erziehung.“ Wie Eltern ihre Kinder beim Aufwachsen begleiten, hinge unter anderem von eigenen Erfahrungen der Mutter oder des Vaters ab. Und: „Jedes Kind ist anders.“ Ein absolutes No-Go gibt es: psychische und physische Gewalt.

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