Politik

Noch immer ist die Stimme des Chansonniers rauh, brüchig und rührend - bei seinen ersten Auftritten wurde er gnadenlos ausgepfiffen: Edith Piafs "kleines beklopptes Genie"

Erst vor ein paar Wochen war er auf dem Kulturfest in Weimar. Es ist das erste Konzert, das Charles Aznavour in den neuen Bundesländern gibt. Mit dabei: Tochter Katja. Sie begleitet ihren Vater als Background-Sängerin. Wegen des anhaltenden Regens und Temperaturen um zehn Grad singt der nur 1,64 Meter kleine, schmächtige Mann ohne Pause.Noch immer ist seine Stimme unverwechselbar: rauh, brüchig, eindringlich, fesselnd, rührend. Seine Balladen in Dur und Moll sind voller Seele und Gefühl.Liebe ist bei Aznavour entweder "fou" (verrückt), "eternel" (ewig) oder "fini" (vorbei). Die besungenen Frauen sind schön, begehrenswert oder untreu. Berufstätig sind sie nie. Mit der Emanzipation der Frau hat sich der Entertainer nie beschäftigt. Auch nicht mit der Politik. Zuflucht in Paris Nach knapp zwei Stunden ist alles vorbei. Der Chansonnier mit dem melancholischen Blick eilt zurück ins Hotel. Am nächsten Nachmittag sitzt er bereits wieder auf seiner Terrasse in St. Tropez, genießt die südliche Sonne bei 29 Grad.Die 4,2 Millionen Mark teure Villa im provenzalischen Stil ist das Sommerdomizil Aznavours und seiner fünfköpfigen Familie. Die Räume sind hell, an den Wänden hängen großflächige Gemälde armenischer Künstler.Vom Sofa aus genießt man einen herrlichen Blick über das Mittelmeer. Der Innenhof mit zahlreichen Palmen bietet Schutz vor dem manchmal lästigen Wind an der Cote d'Azur. Trotz des augenscheinlichen Luxus hat der schauspielernde Sänger eine Vorliebe für einfache Kost: Ziegenkäse und roter Landwein. Ansonsten wohnt der "Napoleon des Chansons" in Genf. Nach Konflikten mit dem französischen Fiskus lebt er seit den siebziger Jahren in der Schweiz. Mit seiner dritten Frau, dem früheren schwedischen Fotomodell Ulla Thursel, ist er seit 30 Jahren verheiratet. Das Paar hat drei inzwischen erwachsene Kinder: Misha, Katia und Nicholas. "Die Familie ist mir nach meiner beschissenen Jugend das Wichtigste", sagt Aznavour, "sie ist mein ruhender Pol."Nach der Vertreibung aus Armenien findet die Familie Aznavourian in den dreißiger Jahren Zuflucht in Paris. Der Vater ist Volkssänger, die Mutter Schauspielerin. Charles, geboren am 22. Mai 1924 in Paris, und Schwester Aida haben nur einen Wunsch: In die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten, die ihren Beruf aufgaben, weil sie kein Französisch sprechen.Der Sohn der armenischen Emigranten besucht als Neunjähriger die "Ecole du Spectacle", eine Art Theater- und Gesangsschule und steht als Zehnjähriger auf verschiedenen Pariser Vorstadtbühnen, wo er Maurice Chevalier und Charlie Chaplin imitiert. Später nimmt er Schauspielunterricht: "Ich mußte mein Leben selbst verdienen - also habe ich alle Rollen angenommen, die ich ergattern konnte. Operetten, Revuen etc."Eines Tages kommt der Zufall zu Hilfe. Die große Edith Piaf hört ihn - von ihrer Wohnung auf der anderen Straßenseite. Spontan lädt sie ihn zu einer Tournee ein - und er bleibt ganze zehn Jahre lang ihr Begleiter - erst als Chauffeur, dann als Komponist.Die Piaf revanchiert sich, singt seine Texte, nennt ihn liebevoll "mein kleines beklopptes Genie". Sie finanziert ihm sogar eine Verkleinerung seiner Nase und hilft ihm über seine Komplexe hinweg: "Du kannst ein Gigant sein", sagt sie ihm immer wieder.Trotzdem hat Charles Aznavour noch einen langen und harten Weg vor sich. Am Anfang der Karriere wird der kleine Armenier in Vorstadtkinos gnadenlos ausgepfiffen. Die Kritik läßt kein gutes Haar an dem Sänger, hält ihn für eine Zumutung.Das ändert sich erst Anfang der fünfziger Jahre. 1955 erobert er mit dem Lied "Sur ma vie" Frankreich. Seine sentimental-rauchige Stimme kommt endlich an. Der Erfolg bringt ihn bis nach Amerika und Japan. 1963 sagt Charles Aznavour nach einem achtwöchigen Gastspiel im Pariser Musen-Tempel "Olympia": "Endlich habe ich es geschafft. Aber ich möchte, daß du weißt, liebe Edith: Jedes Bravo, jedes Viva verdanke ich dir. Meinen Erfolg widme ich dir, dir ganz allein."Die anschließenden Ovationen dauern über eine halbe Stunde. Immer wieder muß der kleine Mann auf die Bühne, und er schämt sich seiner Tränen nicht. Spenden für Armenien Über 800 Chansons stammen aus der Feder des introvertierten Franzosen, darunter Welthits wie "Tu te laisse allez", "Je hais le dimanche", "La Boheme", "Et moi dans mon coin", "Non, je n'ai rien oublie'" und "La Mamma". Sein Chanson "Apres l'amour" setzt die katholische Kirche für mehrere Jahre auf den Index.Neben seiner Sängerkarriere steht Aznavour für zahlreiche Filme vor der Kamera. Unvergessen die Rolle des Charlie Koller in Francois Truffauts Thriller "Schießen Sie auf den Pianisten". Zwei Dutzend Filme folgen, darunter Volker Schlöndorffs "Die Blechtrommel", Patellieres "Taxi nach Tobruk" und Claude Chabrols "Die Fantome des Hutmachers".Seit Jahren engagiert sich Charles Aznavour aktiv für das Land seiner Eltern. Nach dem verheerenden Erdbeben 1989 gründet er die Hilfsstiftung "Aznavour für Armenien" zur Unterstützung der Katastrophenopfer, bringt mehrere Benefiz-Schallplatten heraus.Inzwischen hat er 3,7 Millionen Mark (Stand: Ende 1995) gesammelt und wurde vom armenischen Präsidenten zum "Sonderbotschafter für humanitäre Aktionen" ernannt. Der Geschäftsmann Aznavour betätigt sich als Produzent und Musikverleger.Nicht nur aus Nostalgie kauft er 1994 den Verlag Breton. Dadurch wird er zum Besitzer von zahlreichen Titeln anderer Chansonniers wie Gilbert Becaud und Charles Trenet.Heute ist "le petit Charles" 72 Jahre und immer noch aktiv. Gelegentlich gibt er Konzerte, wie vor ein paar Wochen in Weimar und Ende des Monats in Marseille. Der Erlös kommt der Armenien-Hilfe zugute. Seine neue Leidenschaft ist das Schreiben: Melodien, Poesie, Aphorismen. "Viele glauben, ich führe ein beschauliches Rentnerleben", sagt der kleine Mann mit der Riesenstimme. "Da kann ich nur sagen: Meine restlichen Haare sind zwar inzwischen grau, aber mein Kopf ist noch frisch und mein Wille stark."Schon zu früher Stunde ist Charles Aznavour am Strand von St. Tropez unterwegs: "Ich bin ein absoluter Morgenmensch. Am Meer, wenn das Wasser eintönig plätschert, habe ich die besten Ideen. Ich bringe sie täglich zu Papier." +++