Emanuela Orlandi

Rätsel um Verschwinden von Mädchen im Vatikan: Ermittlungen aufgenommen

Seit 40 Jahren beschäftigt der Fall Emanuela Orlandi den Vatikan. Ehemalige Papst-Vertraute sollen in ihr Verschwinden verwickelt sein. Auch Ratzinger-Sekretär Gänswein kommt in der Akte vor.

Pietro Orlandi bei einer Kundgebung in Erinnerung an seine Schwester Emanuela, die 1983 im Vatikan spurlos verschwand.
Pietro Orlandi bei einer Kundgebung in Erinnerung an seine Schwester Emanuela, die 1983 im Vatikan spurlos verschwand.imago/Pacific Press Agency/Matteo Nardone

Fast 40 Jahre nach dem mysteriösen Verschwinden eines 15 Jahre alten Mädchens im Vatikan hat die Justiz des Kirchenstaates erstmals offizielle Ermittlungen eingeleitet.

Die Strafverfolger wollen dem Verdacht und den Hinweisen nachgehen, wonach die Vatikanbürgerin Emanuela Orlandi, Tochter eines Kurien-Angestellten, entführt oder ermordet wurde. Der Teenager kam am 22. Juni 1983 nach einer Musikstunde in der Altstadt Roms nicht mehr nach Hause. Eine Leiche wurde nie gefunden.

Am Montagabend wurde die Aufnahme von Ermittlungen aus dem Vatikan bestätigt, nachdem die Nachrichtenagentur Adnkronos als Erste über die neue Entwicklung berichtet hatte.

„Das sind gute Nachrichten“, sagte Pietro Orlandi, der Bruder der Verschwundenen, der Zeitung La Stampa (Dienstag). „Ich bin überzeugt, dass es im Vatikan viele Leute gibt, auch solche in hohen Positionen, die wissen, was damals passiert ist.“

Rund um den Fall gab es in den vier Jahrzehnten unzählige Gerüchte und Theorien: etwa dass Orlandi entführt wurde, um den Papst-Attentäter Ali Agca freizupressen; dass die junge Frau von einem hohen Beamten der Kurie sexuell missbraucht wurde; dass der römische Mafiaclan Banda della Magliana in den Fall verstrickt ist.

Die Netflix-Serie „Vatican Girl“ über den Fall Emanuela Orlandi

Der Vermisstenfall war jüngst international durch die Netflix-Serie „Vatican Girl“ bekannt geworden, die diverse Szenarien und verdächtige Elemente rund um den Fall Orlandi aufzeigt. Wie italienische Medien berichteten, will der vatikanische Hauptstrafverfolger Alessandro Diddi nun alle Beweise und Dokumente von damals neu prüfen und Zeugen hören, darunter auch Kardinäle.

Ende 2015 hatte die Staatsanwaltschaft von Rom den Fall archiviert. Daraufhin wandten sich die Angehörigen von Orlandi wieder an den Vatikan und direkt an Papst Franziskus. Beobachter spekulieren, dass der Pontifex selbst zuletzt Druck gemacht haben dürfte. Pietro Orlandi hatte der Klage im September 2019 Auszüge aus Chats zwischen zwei Personen hinzugefügt, die „Papst Franziskus sehr nahestehen“, wie die Tageszeitung La Repubblica berichtet. Demnach soll es im Vatikan ein Dossier über die Entführung der 15-Jährigen geben.

Bruder Pietro Orlandi: „Benedikt XVI. hat nie auf unsere Hilferufe reagiert“

Auch der jüngst gestorbene emeritierte Papst Benedikt XVI. und dessen Privatsekretär Georg Gänswein kommen in dem Fall vor. Pietro Orlandi ist überzeugt, dass Gänswein etwas von einer vatikanischen Akte dazu weiß – das habe der deutsche Erzbischof selbst der Anwältin der Hinterbliebenen gesagt. In einem Buch, das in dieser Woche erscheint, schreibt Gänswein aber: „Ich habe nie etwas in Bezug zum Fall Orlandi zusammengestellt. Dieses Phantomdossier wurde nicht offengelegt, einfach nur deshalb, weil es nicht existiert.“

Ratzinger habe zu dieser Affäre nie Stellung nehmen wollen, behauptet Orlandi, „Er hat trotz der vielen Hilferufe nicht einmal auf die Bitte meiner Mutter reagiert, die lediglich um ein Gebet zum Gedenken an Emanuela während des Angelus bat.“ 

Für den 14. Januar, den Tag, an dem Emanuela 55 Jahre alt geworden wäre, hat Pietro Orlandi ein Sit-in in Rom angekündigt, zum Gedenken an seine Schwester – aber auch, um daran zu erinnern, dass sehr viele Leute in diesem Fall schweigen. Das Plakat, das Orlandi für die Aktion gewählt hat, ist eindeutig: Es zeigt die drei Päpste Johannes Paul II., Franziskus und Benedikt XVI., der Satz dazu lautet: „Das Schweigen hat sie zu Komplizen gemacht.“ (mit DPA)