Geschichte

Walpurgisnacht: Wie die Nazis den Hexenkult befeuert haben

Heinrich Himmler sagte, viele deutsche Frauen seien dem Hexenkult zum Opfer gefallen. Alice Schwarzer sprach sogar vom „Holocaust der Frauen“. Das ist Unsinn.

Adolf Hitler (links) und Heinrich Himmler (rechts daneben) bei einem Treffen 1939
Adolf Hitler (links) und Heinrich Himmler (rechts daneben) bei einem Treffen 1939imago

Berlin-Gleich fliegen sie wieder, die Hexen. In der Nacht zum 1. Mai treiben ältere Frauen Schabernack, und dann hängen Sachen im Baum, die auf „natürliche“ Weise, also ohne auf Besen reitende Hexen nicht dorthin gelangen können. So geschieht es Jahr um Jahr in Kreuzberg. Das ist emanzipatorisch-feministisch gemeint; Frauen erobern sich die Nacht zurück – zuallererst die Walpurgisnacht, wenn auf dem Brocken die Hexen mit dem Teufel tanzen und die Luft vor Sexualität vibriert.

In den 1970er begann die westdeutsche Frauenbewegung den Hexenbegriff für sich zu reklamieren. Wenn selbstbewusste Frauen – „Emanzen“, Lesben, Alleinlebende, politisch Aktive, also suspekte Frauen – schon als Hexen tituliert wurden, dann wollten sie es auch sein. Die neun Senatorinnen des Westberliner Momper-Senats (1989–1991) trafen sich regelmäßig zum legendären „Hexenfrühstück“.

Alice Schwarzer und die Zeitschrift Emma führten die neue Hexenbewegung an. Die Emma widmete sich 1977 zum ersten Mal den fünf Jahrhunderten Hexenverfolgung und stellte sie in den Zusammenhang mit Macht und Geld. Der Widerstand der Frauen sollte als „Infragestellung der männlichen Potenz, der männlichen Macht, also des Mannes schlechthin“ gelten, so schrieb Alice Schwarzer. „Millionen Frauen“ hätten die Hexenjagden das Leben gekostet, ein „Holocaust der Frauen“, wie Schwarzer 1988 meinte.

Anregend für manche Männerfantasien: 1878 malte Luis Ricardo Falero das Bild „Walpurgisnacht. Der Aufbruch der Hexen“.
Anregend für manche Männerfantasien: 1878 malte Luis Ricardo Falero das Bild „Walpurgisnacht. Der Aufbruch der Hexen“.Wikidata:Q2744493/Luis Ricardo Falero

Diese Millionen-Zahl hat nichts mit der Realität zu tun. Sie ist frei erfunden, wie Jahrzehnte seriöser Hexenforschung ergaben. Demnach wurde in Europa zwar drei Millionen Menschen unter dem Vorwurf der Hexerei der Prozess gemacht, 40.000 bis 60.000 Beschuldigte wurden hingerichtet. In Mitteleuropa waren zwei Drittel von ihnen Frauen. Das gilt auch für die Denunziationen von Hexerei und Hexen. In Nordeuropa trafen die Beschuldigungen vor allem Männer, Hexer.

Befremdlich wirkt die Quelle der von den Feministinnen im Dienste ihres Projektes anführten Zahlen. NSDAP-Chefideologe Alfred Rosenberg schrieb in seinem 1930 erschienenen Buch „Der Mythos des 20. Jahrhunderts“: „Millionen des Abendlandes“ seien dem „Hexenwahn“ zum Opfer gefallen. In der von ihm verantworteten Ausstellung „Frau und Mutter – Lebensquelle des Volkes“ von 1939/40 hieß es, zwischen einer halben Million und zwei Millionen Menschen seien durch den „grauenhaften und mörderischen Hexenwahn“ umgekommen. Die Berliner NS-Boulevardzeitung Das 12 Uhr Blatt griff dann noch etwas höher ins Regal und schrieb, den Hexenjagden seien „2 Millionen Mädchen und Frauen zum Opfer“ gefallen.

NS-Forscher legen Hexen-Blätter an

Mehr noch als Rosenberg begeisterte sich Heinrich Himmler, Reichsführer SS, für die Hexenfrage. Er verfolgte das Thema geradezu obsessiv. Auf ihn geht eines der skurrilsten nationalsozialistischen „Forschungsprojekte“ zurück: 1935 ließ er mit „Hexen-Sonderauftrag“ eine 14 Mitarbeiter zählende Forschungsgruppe einrichten, die bis 1944 hauptamtlich damit beschäftigt war, in mehr als 260 Bibliotheken und Archiven in Deutschland und den besetzten Gebieten nach Hexen-Material zu fahnden.

Leidenschaftliche Hobbyhistoriker unterstützten die emsigen Forscher des Reichsführers SS. Als die Erfassung am 19. Januar 1944 eingestellt wurde, hatten sie 33.846 Hexen oder Hexer entdeckt. Jeder Fall bekam eine ordentliche Karteikarte, genannt „Hexen-Blätter“. Erfasst wurden unter anderem Name, Adresse, Familienverhältnisse, Verhaftungsdaten, Prozessverlauf, Geständnis, Urteil und Hinrichtung.

Heinrich Himmler, Reichsführer SS, spricht 1937 vor Mitgliedern des Bundes Deutscher Mädchen (BDM). Himmler beklagte, durch die Hexenjagden sei wertvolles arisches Erbgut verloren gegangen.
Heinrich Himmler, Reichsführer SS, spricht 1937 vor Mitgliedern des Bundes Deutscher Mädchen (BDM). Himmler beklagte, durch die Hexenjagden sei wertvolles arisches Erbgut verloren gegangen.imago/WHA United Archives

Im März 1945 wurde die kriegshalber aus Berlin ausgelagerte Hexen-Karthothek im Barockschloss der Grafen Haugwitz im befreiten niederschlesischen Glogau (Głogów) gefunden. Heute lagert sie im Wojewodschaftsarchiv Poznan und ist der Forschung zugänglich ebenso wie die Kopie im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde. Allerdings ist die Sammlung von geringem wissenschaftlichen Wert für die moderne Hexenforschung; die Arbeiten sind zu offensichtlich von einem ideologisch-propagandistischen Streben besessen. Die NS-Forscher hatten nach neun Jahren des Wühlens kein einziges Buch zustande gebracht.

Die Hexenjagd hat das deutsche Volk Hunderttausende von Müttern und Frauen deutschen Blutes durch grausame Verfolgung und Hinrichtung gekostet.

Heinrich Himmler, Reichsführer SS

Projektleiter Rudolf Levin, evangelischer Pfarrerssohn aus Sachsen, scheiterte mit seinem Bestreben, mithilfe des modischen Projekts als Historiker groß herauszukommen, doch sein wissenschaftlicher Ehrgeiz war größer als sein Können. Ein Gremium sorgfältig ausgewählter Professoren der Universität München lehnte seine zum Hexenthema verfasste Habilitationsschrift 1944 ab.

Sucht man Spuren seiner Tätigkeit, findet man zum Beispiel einen Aufsatz vom März 1943 in der Zeitschrift für Politik mit folgender Beobachtung: „Wir können von einem werdenden germanischen Geschichtsbild sprechen.“ An diesem „Werden“, einem Exempel für die Neuerfindung von Geschichte, wollte er mit seinem Hexenwerk mittun. Denn bei aller Skurrilität standen doch schwerwiegende Absichten hinter der Hexenforschung: Ein Bruch mit der Vergangenheit, ein Reinigungsprozess im Geiste der neuen Zeit war zu vollziehen.

Himmlers Vorfahrin – eine Hexe

Was begeisterte Nationalsozialisten so sehr an dem Hexenthema? Himmler selbst sah in der Hexenverfolgung einen Versuch, die germanische Rasse zu schwächen. Immer wieder sagte er, die Hexenjagd habe „das deutsche Volk Hunderttausende von Müttern und Frauen deutschen Blutes durch grausame Verfolgung und Hinrichtung gekostet“. Als treibende Kraft und Hauptschuldige für den „Verlust an Bluterbe“ sah er die katholische Kirche mit ihrer weltumspannenden, viele „Rassen“ integrierenden christlichen Botschaft. Gegen die Kirchen zogen nationalsozialistische Politiker aus prinzipiellen Gründen zu Felde: Weder Papst noch Bibel sollten heilig sein, denn „im Mythos von Volksseele und Ehre liegt der neue bindende, gestaltende Mittelpunkt“, wie Rosenberg schrieb.

In diesen Zusammenhang gehört die gesamte „Ahnenforschung“; sie suchte eine rassische Überlegenheit des germanischen Blutes zu beweisen. Himmler war ab 1937 Kurator der Deutschen Forschungsgemeinschaft Ahnenerbe, die sich auch mit der Hexenverfolgung befasste. Das Erfinden einer germanisch-nordischen Volkskultur diente der Formierung der neuen Volksgemeinschaft der Rassegenossinnen und -genossen.

Und Himmler spürte auch eine ganz persönliche Verbindung zum Hexenwesen: Margareth Himbler, die am 4. April 1629 in Mergentheim (Württemberg) als Hexe verbrannt wurde, soll, so hatten seine Forscher ermittelt, eine Urahnin von ihm gewesen sein. Die verwitwete Frau starb mit 48 Jahren auf dem Scheiterhaufen. In den meisten Fällen handelte es sich um ältere Frauen, die ihre Zeit als Gebärerin bereits hinter sich und damit ihr vermeintlich besonders wertvolles Erbe bereits weitergegeben hatten. Ein weiterer Beweis für den Unsinn des Geraunes vom „Verlust an Bluterbe“.

Wolborg, die erste Berliner Hexe

Auch die erste urkundlich erfasste Berliner Hexe war nicht mehr jung. Im ältesten Berliner Stadtbuch, das sämtliche bis 1448 in der Stadt gefällte Gerichtsurteile verzeichnet, steht geschrieben, dass im Jahr 1390 eine Frau namens Wolborg zum Tod im Feuer verurteilt wurde, weil sie eine andere Frau krank gemacht habe. Folgendes soll sich zugetragen haben: Die alte Frau Wolborg gab Else Schneiders zwei Beeren. Nach dem Verzehr derselben wurde Else krank und bat Wolborg um Hilfe. Vor einer kleinen Menschenansammlung äußerte Wolborg, dass sie Else krank gemacht habe und dass niemand außer ihr Else heilen könne. Wolborg verlangte für die Heilung Geld, aber die Krankheit blieb. Es kam zur Anklage. Das Gericht tagte wahrscheinlich in der Gerichtslaube am Rathaus und befand die vorgebliche Heilerin der Zauberei schuldig.

Wir wissen nichts über ihr Leben, über die Zeugenaussagen oder ob die Frauen psychische Probleme plagten, was einige Ungereimtheiten erklären könnte wie das Rätsel, warum die angebliche Hexe Wolborg mit ihrer Heilkunst öffentlich prahlte. Das Urteil sprachen Schöffen, Bürger der Stadt. In späteren Hexenwellen führten Juristen und Richter die Prozesse. Die Behauptung, die katholische Kirche und ihre Inquisition hätten die Prozesse geführt und Urteile gesprochen, ist falsch. In der Regel folgten Hexenprozesse auf unerklärliche Ereignisse, um dem Volk zur Beruhigung aufgewühlter Gemüter Schuldige zu präsentieren.

Als in Berlin ein mächtiges Gewitter Spitze, Turm und Mauer der Nikolaikirche beschädigt hatte, soll nach einem Bericht des Chronisten Ferdinand Pusthius aus dem Jahr 1699 Folgendes geschehen sein:  „Anno 1552 ist eine Zauberin zu Berlin verbrannt, und als das Feuer aufgegangen, ist ein Reiher hereingeflogen, und so lange als man ein Vaterunser hat sprechen können, darinnen verblieben, und hernach ein Stück von ihrem Pelze mit sich hinweggeführt. Dies haben etliche 100 Menschen gesehen, und dafür gehalten, daß es der Teufel selbst war.“

Im Jahr darauf verbrannten wieder zwei Frauen in Berlin auf dem Scheiterhaufen. Sie hatten unter der Folter gestanden, ein Kind zerstückelt und gekocht zu haben. Mit einem daraus gewonnenen Zaubermittel hätten sie die Preise, vor allem die von Lebensmitteln, hochtreiben wollen.

Denkmal für die Opfer der Hexenprozesse von Bernau
Denkmal für die Opfer der Hexenprozesse von BernauWikipedia/CC BY-SA 3.0

Die intensivste Zeit deutscher Hexenverfolgung zwischen 1620 und 1635 fand in Berlin nicht mehr statt. Wohl aber erlebte die Nachbarstadt Bernau noch eine große Hexenjagd. Auch in diesem Fall traten nicht Kirchenleute als treibende Kraft auf, sondern die Bürger der Stadt. Ihr erstes Opfer hieß Dorothea Meermann, genannt Orthie. Die Anklage lautete: „Zauberey halber“. Ihr halbes Leben verfolgte die Frau der Hexenverdacht, denn bereits ihre Mutter und Großmutter waren wegen Hexerei hingerichtet worden.

1617 wurde sie selbst öffentlich der Zauberei bezichtigt, und zwar von Gertrud Mühlenbeck, die ebenfalls unter Hexenverdacht stand. Dorothea Meermanns Nachbarn und Verwandte sagten am 2. Dezember 1617 unter Eid vor der Bernauer Ratsversammlung aus, man habe einen Drachen „in ihrem Haus aus- und einfliegen gesehen“, den sie gefüttert habe. Nachbar Matthes Kröchel klagte noch, sein Korn sei verschimmelt. Während der Folter nannte Frau Meermann Namen anderer vermeintlicher Bernauer Hexen. Der Denunziation folgten immer neue Prozesse.

1775 wurde in Deutschland die letzte „Hexe“ hingerichtet.