Berlin-Wenn es um Suizide geht, berühren Medien ein Tabu. Über die alltäglichen Fälle, in denen Menschen keinen anderen Ausweg mehr sehen, als ihr Leben zu beenden, berichten wir nicht. Diese Nicht-Berichterstattung soll verhindern, dass sich Menschen mit suizidalen Gedanken zur Nachahmung ermutigt fühlen. Der Presserat fordert in den für uns verbindlichen ethischen Standards des Pressekodex „Zurückhaltung“ ein: „Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände.“ Genau das Gegenteil geschieht jedoch, wenn das Opfer so prominent war wie etwa das Model Kasia Lenhardt. Auch der Freitod des Torwarts Robert Enke wurde sehr offen thematisiert. Die ihm gewidmete Stiftung fördert unter anderem Projekte, die die Krankheit Depression erforschen – um betroffenen Menschen Hilfe an die Hand zu geben.
Die mediale Berichterstattung wird in diesen Fällen aber weniger Suizidgedanken gefährdeter Menschen bestärkt haben als im Gegenteil das Reden über die psychologischen Nöte von Menschen, denen es eben nicht so gut geht, wie es glamouröse Fotos glauben machen. Burn-out, Mobbing, Selbstzweifel, Selbsthass: Auch Prominente sind vor Lebenskrisen nicht gefeit, für die es allerdings Therapien gibt.
Macht dieses Tabu wirklich Sinn?
Wenn es aber hilfreich ist, über dieses Tabu zu reden, welchen Sinn ergibt dann das Schweigen über die Lebensumstände, die weniger prominente Menschen veranlasst haben, sich selbst auszulöschen? Über Ella, die Frau, die sich am vergangenen Dienstag auf dem Berliner Alexanderplatz in Brand setzte, wurde binnen Minuten in den sozialen Netzwerken gesprochen, später auf den Onlineseiten vieler Zeitungen. Zunächst war fälschlicherweise von einem Mann die Rede, der sich vor einem Kaufhof angesteckt habe. Innerhalb kürzester Zeit machte eine Nachrichtenagentur aus Ella einen „Transmenschen“, als wären transidente Personen eine wundersame Art der Spezies Mensch.
Die Neigung zu Depressionen ist vielen transidenten Menschen nicht angeboren, oft ist sie die Folge schwerster Lebensumstände. Die Seele zu heilen, ist die Aufgabe von Therapeuten, von denen es aber nicht genug gibt – erst recht nicht seit Corona. Untröstlich zeigt sich nun der Psychologe, der Ella betreute: Dass er die posttraumatische Belastungsstörung seiner Patientin nicht heilen konnte und nun von ihrem Tod las – darüber ist der langjährige Therapeut, der eigentlich längst seinen Ruhestand genießen könnte, erschüttert.
Ich habe Ella nicht kennengelernt, aber wir haben eine gemeinsame Freundin. Die beiden waren für vergangenen Sonntag zum Kino verabredet. Entsetzt ist meine Freundin nicht nur über Ellas Tod, mehr noch über die Handyfotos, die von der Sterbenden in sozialen Netzwerken zirkulieren: Ein Helfer, vermutet sie, hat eines der Bilder geschossen und verbreitet. Sie zeigt mir ein so ganz anderes Foto: Innig, albern, gut gelaunt schneiden die beiden Grimassen vor der Kamera. Voller Pläne sei Ella gewesen, hochintelligent, ihre Einstellung positiv. Kommenden Januar hätte sie einen Job bei Tesla angetreten.
